Auch, wenn man Wacken nicht zum ersten Mal erlebt hat, das hier, Wacken 2012, vermittelte einen Eindruck vom Ende der Welt, es war die naturgestützte Inszenierung einer frivolen Apokalypse. Die muntere Stretta vor dem Finale. Und während die alten Prügler von Overkill ihren Thrash Metal in guter, solider Arbeit abliefern, schießen angesichts dieses Ambientes einige der letzten Verse aus Shakespeares "King Lear" in den Kopf: "Is this the promis'd end? Or image of that horror?" Ist das jetzt das versprochene Ende? Oder ein Bild jenes Horrors?
Alljährlich um das erste Augustwochenende herum kommen die Menschen aus allen Teilen der Erde zum größten Heavy-Metal-Festival der Welt nach Wacken, es ist das inzwischen größte 3-Tage-Open-Air-Festival Deutschlands. Angeblich waren in diesem Jahr etwa 100.000 Besucher dort. Wacken ist ein für die Festivalzeit völlig überlaufener, notorisch von seinen Besuchern überforderter Ort, eher ein Dorf als eine Kleinstadt in Schleswig-Holstein, nordwestlich von Itzehoe. Warum ausgerechnet dieses ländliche Kaff im Jahr 1990 zum Austragungsort dieses Festivals erkoren wurde, tut hier nichts zur Sache. Darüber ist schon ein mehrfach ausgezeichneter Dokumentarfilm entstanden: "Full Metal Village" aus dem Jahr 2005.
Zum 23. Mal also überrollten die Fremden diese ländlich herbe Gemeinde. Und sofort transformierten sie den Ort in das, was Francis Ford Coppola in "Apocalypse Now" als bizarren Dschungelstaat des Colonel Curtz gezeichnet hat. Hier bildet er sich spontan aus der anarchischen Truppe der Angereisten, die bereit sind, die körperlichen Strapazen des richtig harten Feierns auf sich zu nehmen. Es gibt gemeinsame Codes, Zeichen der Verständigung und des Einvernehmens, der großen Rücksichtnahme, der Höflichkeit und des Respekts vor dem Anderen. Es gibt Rituale und unsichtbare Regeln, die jedem der Versprengten, diesen globalen Söldnern des Sounds, einleuchten und bekannt sind. Man hält sich daran.
Einem wirklich Außenstehenden aber kommt das gesamte Ambiente: die Atmosphäre im okkupierten Dorf und auf den davorliegenden Äckern des Festivalgeländes, die viel Haut freilassenden Outfits, die unsichtbaren Ordnungen und Bräuche, die marodierten Camp-Grounds, die irren Buden und Stände, das Schwarz der Bühnen, des Bodens und des Himmels, diese gleichzeitige Nonchalance und Richtungslosigkeit und die unfassbare Lautstärke, all das kommt dem Außenstehenden vor wie eine andere, unwirkliche Welt.
Es ist, wie es in Kleists "Marionettentheater" heißt: "So findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein. Allerdings, das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt." Ja, es hat viel von letztem Kapitel und der Grazie überwundener Erkenntnis. Es ist nur hier und Jetzt. Seine Sinnlosigkeit ist seine Zwecklosigkeit. Oder sagen wir es platt: Diesem apokalyptischen, alterslosen Traum fehlt ein Oberst Curtz, der alles zusammenhält.
Das stimmt nicht ganz: Der Rang, den Curtz einnimmt, wird abwechselnd besetzt von einer der über 130 Bands, die von donnerstags bis in den frühen Sonntagmorgen auf drei zentralen und mehreren kleineren Seitenbühnen fast ununterbrochen spielen. Nein, nicht spielen, sie schuften hart. Bei aller Lautstärke, es ist präzises und schnelles Arbeiten der Metallverarbeitenden Musikindustrie. Sie arbeitet an Licht und Effekten, am Sound, an der Intonation der Stimme, an der Pyrotechnik, also an der professionellen Abarbeitung dessen, was hier zu geschehen hat. Auch wenn man nichts versteht, weil es so laut ist. Wer mitsingt, hat die Platte im Ohr, nicht das Geräusch vor der Nase.