Kunst:Lebensentwürfe

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Die Gruppenausstellung "Sweat" feiert im Haus der Kunst in München die körperliche Nähe als Ausdruck von Solidarität.

Von Catrin Lorch

Man steht wie geblendet vor diesem Video. Die Kamera hat - in extremer Zeitlupe und in Schwarz-Weiß - allein auf die Hüften und den Po einer Samba-Tänzerin fokussiert. Die hellen Kristallsteine, mit denen ihr winziges Höschen überkrustet ist, setzen sich - wie in einem Kaleidoskop - immer wieder neu zusammen, während Haut und Körper sich so unerwartet bewegen wie Lava. Das brasilianische Künstlerduo Rosane Chamecki und Andrea Lerner, das unter dem Namen Chameckilerner auftritt, zeigt den Samba geräuschlos, dicht. Die Faszination des Loops "Samba #2" (2014) entfaltet sich losgelöst von aller Folklore und Exhibitionismus.

"Sweat", Schweiß, ist der Titel dieser Gruppenausstellung im Haus der Kunst in München. Es geht um Körperlichkeit, um das Miteinander, um eine Nähe, die nicht Erotik, sondern Solidarität bedeutet. Ganz am anderen Ende der Ausstellung gibt es noch einmal Samba zu sehen - in vielen kleinen Momenten, die der Künstler Mulambö auf Kartonstücken festgehalten hat. Für die kleinen Silhouetten, die sich bewegt zusammenfinden, braucht er nur ein paar Töne von Rot bis Orange, die er auf dem matten Braun der Pappe mit Schwarz kontrastiert. Die präzisen, schlichten Motive haben die Unmittelbarkeit von Schnappschüssen, und über die hohe Wand verteilt ergibt sich auch aus diesen kleinen Facetten ein großes Panorama.

Die Ausstellung speist sich aus politischen Haltungen, Lebensentwürfen und kulturellen Quellen

Es gibt viele solcher Spiegelungen, solcher motivischen Wieder-Aufnahmen in der Ausstellung, die auf den ersten Blick überwältigend bunt, unsortiert und divergent wirkt. An das Motiv des Sambas schließt sich direkt eine historische Dokumentation an vom Karneval in Angola, António Oles Video "Carnaval da Vitória". Der Film aus dem Jahr 1978 erzählt davon, wie das Land den Karneval zurück auf die Straße holte. Die Geduld, mit der Kostüme und Tanzschritte diskutiert, bewertet und erläutert werden, scheint unendlich zu sein. Es ist klar, dass da kein Ethnologe und auch kein Fernsehsender produzieren, sondern ein angolanischer Filmemacher. Man wird sich - am Ende des Rundgangs - an die Akribie und Aufmerksamkeit erinnern, wenn man vor einem Frühwerk des großen Isaac Julien, "Territories" aus dem Jahr 1984, die Ausstellung nachklingen lässt. Der erzählt vom karibischen Karneval im Londoner Stadtteil Notting Hill und stückelt gleichfalls viele unterschiedliche Stimmen und Bilder zusammen, die allerdings vor allem aus Archiven stammen.

Zwischen den beiden Filmen entfaltete sich eine Gruppenausstellung mit mehr als dreißig Künstlern, die unter dem irritierenden Titel "Sweat" selbst eher wie ein bunter, zerstreuter, zuweilen fast zufälliger Straßen-Parcours wirkt, den man am besten flanierend erkundet. So wie eine Straße, in die man vielleicht nur zufällig eingebogen ist, in der man sich aber, neugierig werdend, unvermittelt wohlfühlt.

In der Mitte ist sogar ein Pissoir aufgebaut, der leuchtend grüne Lack ist aber genauso mit Parolen verschmiert - João Pedro Vale und Nuno Alexandre Ferreira verweisen mit dem Readymade auf "Vadios" (2018) - der Begriff bedeutet so viel wie Streuner - auf die staatliche Ausgrenzung Homosexueller in Portugal. Unter den Sprüchen und Kritzeleien sind aber auch Referenzen an portugiesische Klassiker: Das All-over der Buchstabenmalerei ist vielschichtig und berührend belesen. Ähnlich geht es einem als Betrachter auch vor dem gegenüberliegenden Video-Zelt, das Philipp Gufler zugepflastert hat mit Postern aus dem Forum Queeres Archiv München. Hier wird die reiche Geschichte der LGBTQI+-Szene in der bayerischen Landeshauptstadt sichtbar. Von Collagen, Zeichnungen und Parteiplakaten bis zu Einladungszetteln gibt es durchaus auch Lokalgeschichte zu entdecken, während im Zelt ein Zusammenschnitt aus Fernsehbildern läuft. "Lana Kaiser" erinnert noch einmal an die Sängerin, die in Deutschland unter ihrem Geburtsnamen Daniel Küblböck Medienstar wurde.

"Sweat" ist eine außergewöhnliche Ausstellung. Die Kuratoren Anna Schneider und Raphael Fonseca haben mit großer Selbstverständlichkeit mehr als zwei Dutzend Künstler eingeladen, die in Deutschland fast vollkommen unbekannt sind. Doch verzichtet man auf die große Geste, mit der die Kunst solche Auftritte sonst zelebriert, gibt sich souverän vielsprachig, setzt auf das geklitterte, aus vielen Materialien zusammengeschobene Panorama, das sich auch aus politischen Haltungen, Lebensentwürfen und kulturellen Quellen speist.

Das Motiv, mit dem das Haus der Kunst für "Sweat" auf der monumentalen Steinfassade wirbt, ist eine kleine, buntlackierte Bühne "Conjunto (The Ensemble)" (2015), auf der der Bildhauer Daniel Lind-Ramos Besen, Trommeln, Eimer, Stoffreste und Trichter zu Figuren zusammensetzt, die wie eine kleine Combo kurz vor Spielbeginn wirken.

Genauso sensationell ist die Entdeckung der monumentalen Textilbilder der von den Philippinen stammenden, im Jahr 2004 verstorbenen Pacita Abad, die man in allen Sälen mit großer Gelassenheit gehängt hat: sie zeigen als fein gestichelte, mit Farbe, Pailletten und Garn überarbeitete Stoffcollagen die Freiheitsstatue oder - wie "Girls in Ermita" (1983) - Sexarbeiterinnen im Rotlichtviertel von Manila. Die Ausstellungsmacher bemühen sich gar nicht darum, diese Künstlerin groß zu etablieren. Sie sind ganz offensichtlich stolz auf diesen Coup in dem Bewusstsein, dass nicht etwa Pacita Abad Glück hat, posthum ins Haus der Kunst einzuziehen, sondern dass die zeitgenössische Kunst es gerade noch rechtzeitig geschafft hat, sich so zu erweitern mit ihrem "Kunstbegriff", dass das Publikum jetzt von Glück sagen kann, so sanft erzählende, reiche Bildwelten ausgebreitet zu bekommen.

Der fliegende Teppich, auf dem die internationale Riege der Kuratoren vor der Pandemie gleitend durch die globale Kunstwelt segelte, steht jetzt ganz offensichtlich zusammengerollt in der Ecke: Die so drastische, durchaus auch dramatische Ausstellung Sweat wirkt - endlich -, als seien die Künstler selbst hier eingebrochen, hätten sich den kalten Steinboden im Haus der Kunst genauso erobert wie den Asphalt einer Stadt. Unaufhaltsam, verspielt. Mit Wortwitz und überwältigend schönen Bildern.

Sweat. Haus der Kunst, München. Bis 9. Januar. Während der Laufzeit erscheint ein Katalog.

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