Harold James: "Schockmomente":Wann wir am meisten lernen

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Einer von sieben zentralen "Schockmomenten": Münchner Ludwigstraße während der Ölkrise am ersten autofreien Sonntag am 25. November 1973. (Foto: Heinz Gebhardt/Imago Images)

Selten war ein Buch über Wirtschaftsgeschichte so aktuell wie dieses: Harold James hat 170 Jahre Globalisierung untersucht.

Von Nikolaus Piper

Was wird aus Deutschlands Wirtschaft, wenn die jetzige Krise einmal vorbei sein wird? Der Erfolg des Modells Bundesrepublik beruht auf offenen Grenzen, auf verlässlichen Handelspartnern rund um den Globus und - was der breiten Öffentlichkeit bis zum Februar 2022 kaum bewusst war - auf billigem Erdgas aus Russland. Jetzt, da das Gas ausbleibt, sind die Deutschen schlagartig ärmer geworden. Für Energie zahlen Verbraucher heute 43 Prozent mehr als vor einem Jahr, für Lebensmittel beträgt das Plus 20,3 Prozent. Russland ist kein Handelspartner mehr, und was die Volksrepublik China betrifft, nehmen die Zweifel zu. Setzt jetzt die von einigen befürchtete und von anderen erhoffte Deglobalisierung ein, die Rückkehr zu nationaler Selbstbescheidung?

Nein, so wird es nicht kommen, sagt der britische Historiker Harold James. Eher das Gegenteil: Krisenzeiten können Globalisierungsschübe auslösen, wie die Geschichte zeigt. Deutschland und Europa haben in der Sprache der Ökonomen einen negativen "Angebotsschock" erlebt. Ein wichtiger Produktionsfaktor ist plötzlich knapp und sehr teuer geworden. "Schockmoment" nennt James so etwas. "Schockmomente" ist auch der Titel seines neuen Buches, einer "Weltgeschichte von Inflation und Globalisierung von 1850 bis heute".

Das Schlüsselereignis in James' Erzählung ist die Hungersnot der Jahre 1845 bis 1846

James, Jahrgang 1956, lehrt an der Universität Princeton und ist einer der besten Kenner der deutschen und europäischen Wirtschaftsgeschichte. Er schrieb über die Weltwirtschaftskrise der Dreißigerjahre und die Lehren, die man aus ihr ziehen sollte, über europäische Wirtschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert und über die Deutsche Bank während der Naziherrschaft. "Schockmomente" ist nun der Versuch, die großen Angebotsschocks der vergangenen 170 Jahre in einen Kontext zu stellen mit ihren Folgen für Globalisierung und Deglobalisierung. Selten war ein Buch über Geschichte so aktuell wie dieses.

Insgesamt sieben dieser Schockmomente definiert James: die Hungersnot in Europa am Ende der 1840er, die Finanzkrise des Jahres 1873 (in Deutschland als "Gründerkrach" bekannt), die Katastrophe des Ersten Weltkriegs mit Inflation und anschließender Deglobalisierung, die Weltwirtschaftskrise der Jahre 1929 bis 1933, der Ölschock von 1973 mit der Inflation der 1970er-Jahre, die Finanzkrise von 2008 und der Ausbruch der Corona-Pandemie 2020. Der achte Schockmoment folgte am 24. Februar 2022, als Russland die Ukraine überfiel. Das war kurz ehe James die "Schockmomente" fertiggestellt hatte, er erwähnt den Krieg daher nur am Rande.

"Durch mehr Bewegung konnte die Welt gerettet werden - mehr Bewegung von Waren, von Menschen (im Falle der verarmten ländlichen Gegenden Europas: Auswanderung), aber auch von Geld." Harold James, geboren 1956 in Bedford, ist Wirtschaftshistoriker und lehrt in Princeton. (Foto: Sameer Khan)

Das Schlüsselereignis in James' Erzählung ist die Hungersnot der Jahre 1845 bis 1846. Im allgemeinen Bewusstsein ist aus dieser Zeit vor allem die Katastrophe Irlands geblieben. Nach mehreren extrem regenreichen Sommern befiel der Pilz Phytophtora infestans, Auslöser der Kartoffelfäule, die Felder der armen Insel. 1846 zerstörte er etwa 80 Prozent der irischen Kartoffelernte. Der Preis für ein Pfund Kartoffeln überstieg nun den Tageslohn eines einfachen Arbeiters. Nach modernen Forschungen starben eine Million Iren an Hunger oder an Infektionskrankheiten, die durch Mangelernährung ausgelöst wurden. Die Hungersnot bleibt bis heute das große Trauma der irischen Geschichte, auch wegen des Versagens der Regierung in London, die damals den Iren nicht helfen konnte oder wollte.

Aber nicht nur in Irland, überall in Europa hungerten die Armen. Missernten und Hunger hatte es auch früher gegeben, diesmal jedoch war einiges ganz anders. Es war einerseits mit den Worten des Historikers Hans-Ulrich Wehler die "letzte Agrarkrise alten Typs in Deutschland bzw. Mitteleuropa", andererseits löste sie einen modernen Konjunktureinbruch mit anschließender Finanz- und Bankenkrise aus. "In gewissem Sinne handelte es sich um eine Krise aus dem 18. Jahrhundert und um eine aus dem 20. oder 21. Jahrhundert", so James.

"Der junge Marx, der hellsichtig die Widersprüche der frühen Globalisierung beschrieb, hatte recht; der alte Marx dagegen irrte"

Auf die Hungerjahre folgte in Europa das Revolutionsjahr 1848: Februarrevolution in Paris, die Märzunruhen in Berlin, Aufstände in Wien, Budapest und in Italien. Zwar erreichten die Revolutionäre ihre politischen Ziele nicht, wirtschaftlich jedoch setzte sich das Bürgertum nach und nach durch. Vor allem aber löste das Jahr 1848 eine große Welle der Globalisierung aus. James beschreibt die Logik dieser Globalisierung so: "Durch mehr Bewegung konnte die Welt gerettet werden - mehr Bewegung von Waren, von Menschen (im Falle der verarmten ländlichen Gegenden Europas: Auswanderung), aber auch von Geld. Durch verbesserte Transportmittel konnte man die Güter effizienter herbeischaffen, mit der Bahn an Land, mit dem Dampfschiff über die Meere."

Am spannendsten ist das Buch dort, wo James Verbindungen von Wirtschafts- und Sozialgeschichte zur Geistesgeschichte herstellt. Es war eben kein Zufall, dass ausgerechnet 1848 das Kommunistische Manifest erschienen ist. James bezeichnet es als die "wirkmächtigste Analyse" der Krisen dieser Zeit. Karl Marx und Friedrich Engels beschrieben leicht verständlich, was Globalisierung ist: "An die Stelle der alten lokalen und nationalen Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander." James bringt es auf den Punkt: Der junge Marx, der hellsichtig die Widersprüche der frühen Globalisierung beschrieb, hatte recht; der alte Marx dagegen irrte, als er 1867 im "Kapital" eine unausgegorene Theorie auf seine Beobachtungen setzte. Die Wirtschaftstheorie geht seither ganz andere Wege.

Harold James: Schockmomente - Eine Weltgeschichte von Inflation und Globalisierung. Herder Verlag, Freiburg 2022. 540 Seiten, 36 Euro. (Foto: Herder Verlag)

Aufschlussreich ist auch, wie James die wirtschaftlichen und wirtschaftstheoretischen Hintergründe des Ersten Weltkriegs schildert. Dieser Krieg brachte den bisher schlimmsten Rückschlag für die Globalisierung mit sich. Die Deglobalisierung war Ursache politischer und wirtschaftlicher Katastrophen und führte direkt in den nächsten Krieg. In Deutschland begann bereits bei Kriegsausbruch 1914 der Marsch in die Geldentwertung, der 1923 in einer beispiellosen Hyperinflation enden sollte. James befasst sich mit den Denkern, die diese Inflationierung geistig vorbereitet hatten. Zum Beispiel Georg Friedrich Knapp (1842-1925), Wirtschaftsprofessor an der Universität Straßburg.

Knapp vertrat eine Lehre, die er "Staatliche Theorie des Geldes" nannte. Nach dieser Theorie sind es nicht Gold und Silber, die den Wert des Geldes bestimmen. Es ist der Staat, der die uneingeschränkte Souveränität über den Geldwert hat oder haben sollte. Eine Regierung kann praktisch unbegrenzt Geld ausgeben, jedenfalls so lange, bis das Produktionspotenzial der Volkswirtschaft erreicht ist. Nach Knapps Theorie sind Geld und Staatsschulden keine Verbindlichkeit des Staates, sondern Vermögenswerte, die es den Bürgern erlauben, ihre Träume zu verwirklichen. Damit dürfte Knapp die deutsche Inflation während und nach dem Krieg geistig vorbereitet haben, weil er die Regierungen zum Geldausgeben ohne Rücksicht auf Verluste ermutigte.

Ironie der Geschichte: Knapps Souveränitätstheorie feiert heute wieder eine kleine Renaissance, und zwar bei der amerikanischen Linken. Ihre Anhänger nennen sie jetzt Modern Monetary Theory und postulieren, dass die amerikanische Regierung sich keine Grenzen beim Geldausgeben setzen sollte. Ob die Theorie die jüngste Welle der Preissteigerungen überleben wird, ist offen.

"Angebotsschocks erschaffen die Globalisierung erst und gestalten sie dann neu", schreibt James zum Abschluss seines Buches. Es ist nicht immer leicht zu lesen und verlangt Vorwissen in neuerer Geschichte und Wirtschaftstheorie. Aber die Mühe lohnt sich. James hat ein ungewöhnliches Geschichtsbuch geschrieben - und es ist ein optimistisches Buch. Er beschließt es mit dem Satz: "Aber wir lernen am meisten, wenn die Gegenwart am düstersten ist."

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