Zum Tod von Harald Weinrich:Kunst des Vergessens

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Mit 94 Jahren ist der 1927 geborene Wissenschaftler Harald Weinrich in Münster gestorben. (Foto: Arne Dedert/picture-alliance/ dpa)

Er erfand das Fach "Deutsch als Fremdsprache" und hatte als erster Ausländer den Lehrstuhl für Romanistik am Collège de France inne: Der Linguist Harald Weinrich ist gestorben.

Von Thomas Steinfeld

Im Frühjahr 2005 veröffentlichte der Romanist, Linguist und auch darüber hinaus weithin gelehrte Harald Weinrich ein Buch mit dem Titel "Knappe Zeit. Kunst und Ökonomie des befristeten Lebens". Seit sieben Jahren war er emeritiert. Nun bedachte er die Zeit, die blieb, nicht nur für ihn, sondern überhaupt. Er nahm Seneca zu Hilfe, den Philosophen der inneren Freiheit, und erkundigte sich bei Tom Tykwer, wie man mit kürzer werdenden Fristen umgeht.

Am Ende schloss Harald Weinrich, dass die landläufige Behauptung, das Kapital sei die Kraft, die das Leben immer weiter beschleunige, nur bedingt wahr sei. Von ebenso großer Bedeutung sei der Verlust des Heilsversprechens: Für den, der nicht mehr an ein ewiges Leben glaube, müsse alle Zeit kurz werden. Die letzten Seiten des Buchs sind Gedichten gewidmet. In ihnen, die ja aus Prinzip Produkte der Verknappung sind, fand er Schönheit, Muße, Innehalten genug, um sich mit dem Verrinnen der Zeit zu versöhnen.

Danach geschah noch viel. Harald Weinrich schrieb ein Buch, in dem der Teufel zivilisiert wird (2007), er verfasste ein heiteres kleines Werk über das Sprachvermögen der Tiere (2008), und vor allem dachte er "Über das Haben" (2012) nach. In diesem kleinen Buch nahm er noch einmal eines seiner großen wissenschaftlichen Themen auf: Am Verb "haben" zeigt er, wie ein Wort auf die Welt zugreift, wie es die Vorstellungen von der Welt gestaltet und sie bewegt, vor allem in seiner Funktion als eines der beiden Hilfsverben, mit denen man im Deutschen das Perfekt bilden kann. Dieses Perfekt, erklärt er weiter, sei die Zeitform der "besprochenen" Welt, während das Präteritum die Zeitform der "erzählten" Welt sei. Mit Ersterer drücke man aus, dass ein Vergangenes in der Gegenwart fortwirke, mit der anderen entsteht eine Welt, die etwas Abgeschlossenes sei. "Was hast du getan?", fragt deshalb Jehova, als Kain seinen Bruder Abel getötet hatte.

Als Kriegsgefangener lernte er das Französisch, in dem er später Vorlesungen halten konnte

Das Buch "Über das Haben" ist nur scheinbar ein leichtes Werk. Harald Weinrich hatte eine eigene Sprache, präzise, prägnant, nie schwierig, souverän und gelassen und manchmal von einer leisen Heiterkeit. Wer das Glück hatte, ihn in einer Vorlesung zu erleben, wird sich daran erinnern, dass er nichts vor sich hatte außer einem Zettel mit ein paar Stichworten. Dann konnte er eine Dreiviertelstunde sprechen, in einem klaren, wohl organisierten Deutsch - wahlweise auch in Französisch -, und am Ende seine Zuhörer in der Gewissheit zurücklassen, tatsächlich etwas gelernt zu haben.

Wenn man ihn darauf ansprach, wie er das mache, wurde auf die Mnemotechnik der Alten verwiesen, der zufolge man sich, was man vorzutragen habe, in einer räumlichen Ordnung vorzustellen habe. Aus solchen Verbindungen zwischen Geist und Körper war schon das wichtigste wissenschaftliche Werk Weinrichs entstanden, das Buch "Tempus" aus dem Jahr 1964. Es handelt davon, wie Zeitbegriffe gesetzt werden, ausgehend von der physischen Bedeutung des Wortes "tempus": von der "Schläfe", in der die Alten das menschliche Zeitorgan gesehen hatten.

Harald Weinrich stammte aus Wismar. Er hatte als Kriegsgefangener Französisch gelernt, er hatte eine frühe und steile akademische Karriere als Romanist durchlaufen, er war einer der Gründer der Reformuniversität Bielefeld gewesen, er hatte ein kleines, aber einflussreiches Buch über die "Linguistik der Lüge" veröffentlicht. Dann kam er nach München. Das Fach "Deutsch als Fremdsprache", das er dort begründete, beschäftigt sich im Kern mit dem Unterricht für Ausländer und Migranten. Es betrachtet das Deutsche von außen, aus der Perspektive der Menschen, denen das Deutsche die Zweit- oder Drittsprache werden soll.

Wer etwas Neues schaffen wolle, müsse Altes vergessen, lehrt Weinrich

Unter seiner Regie wurde das Fach zu einer Disziplin der gelebten akademischen Bildung. Die beiden "Textgrammatiken", die Harald Weinrich in den Münchner Jahren schrieb (1982 für Französisch, 1992 für Deutsch) sind Manifestationen dieses Interesses, insofern es bei ihnen darum geht, den üblichen Verlauf einer Grammatik umzukehren und nicht mit dem einzelnen Wort, sondern mit seinem Zusammenhang zu beginnen.

Wer eine Sprache lernen will, so Weinrich, braucht mehr als Vokabeln. Er braucht das Wissen über Strukturen und Kontexte, und er benötigt eine literarische Bildung. Denn in der Literatur einer anderen Sprache tritt dem Lernenden ein ganzer Kosmos von Sinn entgegen - ästhetisch, intellektuell und sehr nah am Leben.

Nach seiner Emeritierung in München, im Jahr 1992, wechselte Harald Weinrich ans Collège de France in Paris. Dort hatte er, als erster Ausländer, für fünf Jahre den Lehrstuhl für romanische Sprachen und Literatur inne. Während dieser Zeit schrieb er ein weiteres seiner kleinen Bücher: "Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens" heißt es.

Wer etwas Neues schaffen wolle, müsse Altes vergessen, lehrt Weinrich, zugleich aber gebe es kein Vergessen ohne Erinnern. Denn wer sich erinnere, fasse das Vergangene in einem Bild zusammen, und das sei ohne Vergessen nicht möglich. Auch dieses Buch ist nur scheinbar leicht, und es ist ein Vermächtnis, an das man sich erinnern wird: Am 26. Februar ist Harald Weinrich im Alter von 94 Jahren in Münster, seiner späten Wahlheimat, gestorben.

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