Was für eine Geschichte: Da wird 1934 bei Kanalarbeiten ein uraltes Grab, das mit reichen Beigaben ausgestattet ist, in Bad Dürrenberg in Sachsen-Anhalt gefunden. Sofort stürzen sich Prähistoriker der Nazis darauf, sehen in dem Fund den Urarier und glauben, damit den Beweis führen zu können, dass die Arier direkt hier in Mitteldeutschland "entstanden" sind. Also keine Migration, sondern direkt aus Blut und Boden emporgewachsen. Das alles sind haltlose Behauptungen von sogenannten Wissenschaftlern, die entweder dem Amt Rosenberg zu Diensten waren oder den konkurrierenden Stellen des SS-Chefs Heinrich Himmler.
Alle sind sie vom Arierwahn so besessen, dass ihnen sogar entgeht, dass es sich um ein weibliches Skelett handelt und dass auch noch Knochen eines Kleinkindes dabei sind. Die grotesken Schriften der Naziforscher sind Dokumente von Ideologie, Willkür und Unwissenschaftlichkeit erster Güte. Manches davon befindet sich heute im Keller des Landesmuseums für Vor- und Frühgeschichte in Halle.
Archäogenetik ist die chemische Analyse kleinster Partikel von Boden, Farbresten und Knochenteilchen
Von 2019 an wurde die alte Grabungsstätte erneut ausgegraben, dieses Mal nicht aus Not, sondern um möglichst alles noch Vorhandene und Übersehene zu bergen und richtig auszuwerten. Harald Meller, Landesarchäologe von Sachsen-Anhalt und Direktor des Hallenser Museums, und Kai Michel, Historiker und Literaturwissenschaftler, haben nun - nach ihrem gemeinsamen Bestseller über die Himmelsscheibe von Nebra - die Geschichte jener ominösen Frau im Grab von Dürrenberg erzählt. Zugleich ist ihr neues Buch "Das Rätsel der Schamanin" auch ein gedankenreicher und fesselnder "Roman" jener modernen wissenschaftlichen Methoden, mit denen schier Unglaubliches über jemanden, der vor mehr als 9000 Jahren gelebt hat, herauszubekommen ist. Archäogenetik heißt die chemische Analyse kleinster Partikel von Boden, Farbresten und Knochenteilchen.
Aber die Autoren versuchen im Buch auch mit großer Skepsis und Vorsicht die eigenen Schritte zu überprüfen, um nicht der Versuchung zu erliegen, mit Projektionen aus heutigen ethnografischen, soziologischen oder psychologischen Kenntnissen und Annahmen heraus die uralte Dame und ihre Lebensumstände zu erklären. So erläutern sie ausführlich den problematischen Gebrauch des Begriffs Schamane, der sofort bei der Hand ist, wenn ein so besonderes Grab gefunden wird. Man erfährt, dass der Begriff aus der Sprache eines sibirischen Volkes entliehen ist und dass zuerst die Christianisierung, aber später auch die stalinistische Sowjetpolitik die sibirischen Schamanen auslöschen wollte. Ähnlich vielschichtig erklären die Autoren das Phänomen des Animismus von Pflanzen, Tieren, Landschaften und Gesteinen in heutigen Jäger- und Sammler-Populationen, ohne einfach 9000 Jahre zurück ins Mesolithikum zu schließen.
All das liest sich so spannend wie erhellend, allmählich wird einem die Dame sogar fast vertraut. Die genaue wissenschaftliche Untersuchung des Genoms ermöglicht es, sich auch optisch ein recht präzises Bild der alten Dürrenbergerin zu machen: helle Augen, dunkle Haut, dunkle Haare. Es sammeln sich im Laufe der Forschungen zudem viele harte Belege und sichere Indizien dafür, dass die Tote eine hochbedeutsame Person gewesen sein muss, sonst hätte es nie dieses bedeutende Grab an herausgehobener Lage gegeben. Und die vielen verschiedenen Beigaben zeugen davon, dass sie wohl "eine medizinische Expertin" gewesen sein muss, vulgo eine Schamanin. Dass ihre Bedeutung von Generation zu Generation weitergeben wurde, zeigt sich auch daran, dass noch 600 Jahre später nahe ihrem Grab zwei Hirschgeweihmasken abgelegt wurden.
Meller und Michel scheuen sich auch nicht, Trance, Rausch, Reisen ins Jenseits, bewusstseinserweiternde Drogen, Meditation, Spiritualität und Religion zu diskutieren, Elemente, die sofort mit dem Schamanismus in Verbindung gebracht werden, den in den Sechzigern etwa der rumänische Religionswissenschaftler Mircea Eliade beschwor und so zu neuem Leben verhalf (das aber kaum noch etwas mit den sibirischen Ursprüngen des Phänomens zu tun hatte). So geraten die Autoren zwanglos vom menschheitsgeschichtlichen ins gesellschaftspolitische Philosophieren. Mit anderen Worten: Die Magie der alten Dame aus Bad Dürrenberg wirkt mit all ihren Beigaben bis heute. Und bei der Lektüre des Buches spürt man manchmal seltsam konkret, was die reich Bestattete aus dem Mesolithikum zu Lebzeiten unzweifelhaft gehabt haben muss: Charisma.
Harald Meller, Kai Michel: Das Rätsel der Schamanin: Eine archäologische Reise zu unseren Anfängen. Rowohlt Verlag, Hamburg 2022. 368 Seiten, 28 Euro.