Salzburger Festspiele:Kinderchöre und Sirenengesänge

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Andris Nelsons dirigiert die Wiener Philharmoniker und Solistin Violeta Urmana. (Foto: MarcoBorrelli; MarcoBorrelli/MarcoBorrelli)

Gustav Mahlers Dritte Symphonie und Friedrich Cerhas "Spiegel" machen bei den Salzburger Festspielen die Erweiterung der Klänge in der Moderne erfahrbar.

Von Michael Stallknecht

"Herrgott, dass ich die Hupe vergessen habe!", flucht Gustav Mahler in einer Karikatur, die anlässlich seiner Sechsten Symphonie erschien. "Jetzt kann ich noch eine Symphonie schreiben!" Tatsächlich bedeuten Mahlers großkalibrige Symphonien nicht nur eine Epochenschwelle von der Spätromantik zur Moderne, sondern auch in der Ausweitung der klanglichen Mittel - und damit der nötigen Zahl der Mitwirkenden. Nachdem größere Menschenansammlungen auch auf den Bühnen in den vergangenen Monaten fast unmöglich waren, gehört es zweifellos zum Reiz der diesjährigen Salzburger Festspiele, dass man sie dort derzeit wieder erleben kann. Zum Beispiel in Mahlers Dritter Symphonie unter dem Dirigat von Andris Nelsons, bei der Frauen- und Kinderchor für ihren nicht einmal fünfminütigen Einsatz den hinteren Teil der Bühne im Großen Festspielhaus füllen. "Es sungen drei Engel einen süßen Gesang" singen die Frauen des Chors des Bayerischen Rundfunks, während der "Salzburger Festspiele und Theater Kinderchor" dazu "Bimm-bamm, bimm-bamm" ruft: eine Himmelsvision zwischen Parodie und Ernst, wie es sie nur im Mahlerschen "Als-ob" geben kann.

Sie bildet nur den Auftakt für das grandiose Schlussadagio, in dem das Orchester einen Erlösungsgesang spinnt, der nicht mehr "als ob" daherkommt, sondern als eine der letzten, schmerzlichen Beschwörungen romantischer Innerlichkeit. Die Wiener Philharmoniker sind da ganz bei sich, denn wenn es um lange, intensive, dabei zugleich zärtliche Streicherlinien geht, gibt es weltweit kaum ein Orchester, dass das Residenzorchester der Salzburger Festspiele überbieten könnte. Und Andris Nelsons tut das Beste, was ein Dirigent in solchen Momenten tun kann: dem Orchester freien Lauf gewähren, damit die pure Schönheit des Klangs sich atmend entfalten kann. Auch die Solistin Violeta Urmana sorgt für vollkommene Beglückung, wenn sie ihren irdenen Mezzosopran in sattem Strom fließen lässt und dabei zugleich die Texte präzise artikuliert.

Dass die Aufführung als ganze dennoch an den Ansprüchen des Stücks vorbeigeht, liegt, paradox formuliert, daran, dass der Rest ebenso schön klingt, was bei Mahler eben bedeutet: zu schön. Nelsons fehlt der Mut zur Zuspitzung der Klänge, zum Grellen und Schrillen, zum Possenreißerischen und Jahrmarktshaften, das, besonders im ersten Teil, einen wesentlichen Teil des Mahlerschen "Als-ob" ausmacht. Die vielen Brüche des ersten Satzes erscheinen eingeebnet und geborgen im unverminderten Fluss des Wohlklangs. Dem Menuett des zweiten Satzes fehlt es an Ironie, wenn es wie hier als reines Stilzitat der Wiener Klassik daherkommt statt als parodistischer Rückblick auf eben diese. Das erstaunt bei einem Dirigenten, der sich, auch in Salzburg, nicht zum ersten Mal mit Mahler auseinandersetzt - vielleicht fehlte es auch schlicht an Probenzeit für das fast zweistündige Werk.

Friedrich Cerha - Doyen der Moderne

Letzteres ließe sich dem "ORF Radio-Symphonieorchester Wien" nicht nachsagen, das ebenfalls aus der österreichischen Hauptstadt nach Salzburg gereist ist, mit einem ebenso großbesetzten wie technisch vertrackten Werk, den "Spiegeln I - VII" von Friedrich Cerha. Mit inzwischen 95 Jahren gilt Cerha als lebender Doyen der - nicht nur - österreichischen Moderne, der fast ein ganzes Jahrhundert angeregt und mitgeprägt hat. Den Salzburger Festspielen ist er spätestens seit der Uraufführung seiner Oper "Baal" im Jahr 1981 eng verbunden. Mit seinen "Spiegeln" entwarf er 1960/61 einen Zyklus von sieben Orchesterstücken, der in der vollständigen Aufführung mit eindreiviertel Stunden Mahlersche Dimensionen erreicht. Tatsächlich denkt Cerha hier die Emanzipation des Klangs weiter, wie sie bei Mahler angelegt ist, indem er andere tradierte Parameter wie Melodie, Harmonie oder ein taktierendes Metrum umso radikaler ausschaltet. Keine Hupe, wohl aber eine Sirene sorgt im vierten "Spiegel" für einen unerhörten klanglichen Moment, und auch das Tonband als elektronische Erweiterung der Mittel im 20. Jahrhundert hat Cerha nicht vergessen.

Allein zwölf Schlagwerker, dazu Harfen, Cembalo, Celesta und Klavier erweitern das klassische Sinfonieorchester zu einem Riesenapparat, der auf der Breitwandbühne der Felsenreitschule den Klang zum räumlichen Ereignis werden lässt. Denn Cerha platziert die Streicher nicht in Gruppen, sondern von der höchsten bis zur tiefsten der einzeln notierten Stimmen, also vom links außen sitzenden Konzertmeister bis zur tiefsten der Kontrabassstimmen auf der rechten Seite. Mehr als hundert Einzelstimmen fügen sich so zum Kollektiv, indem sie Klänge untereinander weiterreichen, was den Musikern des "ORF Radio-Symphonieorchester Wien" äußerste Konzentration und Sprungbereitschaft abverlangt. Durchs Orchester wandernd, bilden sie Klangräume und Klangflächen aus, gleich Bienen- oder Vogelschwärmen, die nach selbstorganisierenden Prinzipien mal hierhin, mal dorthin ziehen. Den Dirigenten Ingo Metzmacher lässt das eher zum Organisator als zum Gestalter werden, auch wenn Cerha selbst seine "Spiegel" später durchaus im Sinne des Ausdrucks als Reflex seiner Erfahrungen mit der Gewalt des Zweiten Weltkriegs deutete.

Man mag es am ehesten in den gewaltigen Schlagzeugorgien hören, die in anderen Werkteilen von leise zitternden oder nur zart gezupften Klängen ausbalanciert werden. Mit sechzig Jahren Abstand nimmt man dennoch vor allem die Versuchsanordnung wahr, die geometrischen Konzepten in der Malerei des 20. Jahrhundert gleicht. Die "Spiegel" behalten so ihren Ehrenplatz als radikales Werk des Übergangs, dessen Konsequenz sich in der Aufführung ebenso als Stärke wie als Schwäche erweist. Denn unmittelbar hintereinander gehört, ähneln und "spiegeln" die sieben Stücke einander doch so sehr, dass sie ihrer Aufführung als vollständiger Zyklus vielleicht gar nicht mal unbedingt bedürfen.

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