Gedenkkultur:Die dritte Welle

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In dutzenden Ausstellungen gedenkt Polen einer antisemitischen Kampagne, die 1968 tausende Juden in die Emigration trieb. Ministerpräsident Mateusz Morawiecki jedoch sieht das Land nicht in der Verantwortung.

Von Florian Hassel

1968, als auch Polen kurz im Zeichen demokratischen Aufbruchs stand, zeigte das Warschauer Nationaltheater den Klassiker "Die Ahnen" von Polens Nationaldichter Adam Mickiewicz. Das Stück ist im 19. Jahrhundert entstanden, als Polen zwischen Österreich, Preußen und Russland aufgeteilt war, und es richtete sich gegen den Zaren. Im Warschau von 1968 bekam es eine neue Bedeutung: gegen das kommunistische Regime und seine Moskauer Oberherren. Polens KP verbot das Stück.

Studenten, beflügelt von der Aufbruchstimmung in Europa, demonstrierten für "Freiheit für das Theater"; viele wurden verhaftet oder von der Universität geworfen. Doch auch in anderen Städten begannen Demonstrationen, am 8. März protestierten 2000 Studenten der Warschauer Universität. Das Regime ließ den Protest zusammenprügeln, Tausende Studenten wurden verhaftet, etlichen der Prozess gemacht.

Gleichzeitig brach sich ein kaum verhohlener Antisemitismus Bahn: Hinter den Protesten hätten, so verbreitete das Regime, die Juden gestanden, im Parteijargon als "die Zionisten" verbrämt. "Der Zionismus strebt in Bündnis mit Hitlers Erben auch seine eigene Rehabilitierung an, die Rehabilitierung der Judenräte, der jüdischen Ghettopolizei, der jüdischen Gestapobrigaden, mit deren Hilfe die zionistischen Organisationen die Juden in die Krematorien führten", schrieb die Parteizeitung Trybuna Ludu am 21. April 1968 auf dem Höhepunkt der Kampagne, die antijüdische mit antideutschen Ressentiments verband. Dabei lebten, gut zwei Jahrzehnte nach den millionenfachen Morden durch die Deutschen und massiver Auswanderung nach Kriegsende, 1968 gerade noch rund 30 000 Juden in Polen. Viele von ihnen verließen das Land jetzt.

Zum Beispiel die Familie Gryniewicz: 1939 waren Gustav und Maria Grünwiese, beide überzeugte Kommunisten, vor den Deutschen in die Sowjetunion geflohen. Sohn Adam und Tochter Halina kamen in Perm im Ural zur Welt. Nach dem Krieg kehrten die Grünwieses nach Polen zurück. Dort hatten die Deutschen bis zu drei Millionen jüdische Polen in den Vernichtungslagern und Ghettos ermordet. Doch auch Polen brachten im Krieg Schätzungen des Historikers Jan Tomasz Grosz zufolge Zehntausende Juden um. Noch nach Kriegsende ermordeten Polen bis ins Jahr 1946 bis zu 1500 Juden, sagt der Historiker Keith Lowe.

In den Sechzigern war eine Fraktion antisemitischer Stalinisten im Aufwind

Fast die Hälfte der schätzungsweise 250 000 überlebenden Juden floh aus Polen. Die Grünwieses blieben, doch änderten sie ihren Familiennamen vorsichtshalber in Gryniewicz. Mutter Maria schrieb für eine jüdische Zeitung, Vater Gustav wurde Kurier des Außenministeriums. "Meine Eltern glaubten, der Kommunismus als internationale Ideologie sei der einzige Weg, um Antisemitismus ein für alle Mal zu überwinden", erinnert sich Adam Gryniewicz. Doch Enthüllungen über das Stalin-Regime und zunehmender Antisemitismus im Alltag stimmten Maria Gryniewicz um. "Sie wollte auswandern - mein Vater bleiben." 1958 starb der Vater, Maria Gryniewicz ließ ihre Pläne fallen, ihre Kinder studierten in den 60er-Jahren an der Warschauer Universität.

Unter Polens Kommunisten war in den Sechzigerjahren eine nationalistische und antisemitische Fraktion von Stalinisten im Aufwind, angeführt von Innenminister Mieczysław Moczar. Auch Parteichef Władysław Gomułka ritt die antisemitische Welle, vor allem ab Juni 1967, nach Israels Sieg im Sechstagekrieg über das von Moskau bevorzugte Ägypten und Syrien. Vor Gewerkschaftern sprach Gomułka am 19. Juni 1967 von einer "fünften Kolonne" in Polen, warnte, jeder Pole könne "nur ein Vaterland haben", und sagte, Warschau werde Juden bei der Ausreise nach Israel keine Hindernisse in den Weg legen. Polens Armee und Staatsapparat begannen, jüdische Offiziere und Beamte zu diffamieren und zu entlassen.

Es war nur das Vorspiel zu einer beispiellosen Hetzkampagne, die im März 1968 begann. Der Kattowitzer Parteichef Edward Gierek hetzte am 14. März 1968 vor 100 000 Menschen gegen "Revisionisten und Zionisten, die dem Imperialismus dienen"; KP-Chef Gomułka sagte in einer vom Fernsehen übertragenen Rede am 19. März, dass solche, deren Loyalität Israel gelte, in Polen nichts verloren hätten - der geifernde Saal schrie: "Gleich!" und "Noch heute!" Tausende polnische Juden verloren ihre Arbeit. "Ende mit dem Judentum! (...) Wer Jude ist, hat heute nichts in Polen verloren!", erklärte ein Beamter des Kulturministeriums, nachdem dessen jüdischer Generaldirektor Stanisław Neumark aus der Partei ausgeschlossen worden war.

Viele polnische Juden, vor allem ältere, fürchteten wieder um ihr Leben. Bis zu 15 000 Juden flohen - nach Dänemark und Schweden, in die USA und nach Israel. Die meisten ließ das Regime per Zug von Warschaus Danziger Bahnhof ausreisen - mit einem Koffer und einem frisch ausgestellten "Reisedokument", das festhielt: "Der Besitzer dieses Reisedokumentes ist kein polnischer Staatsbürger." Adam Gryniewiczs Schwester Halina, eine damals 20 Jahre alte Chemiestudentin, floh im November 1968 vor dem andauernden antisemitischen Druck. Adam Gryniewicz, damals ein 27 Jahre junger Nachwuchsingenieur im Traktorenwerk Ursus, folgte ein Jahr später. "Ich hatte schließlich verstanden, dass Polen kein Land für uns Juden mehr werden würde", sagt der heute 77 Jahre alte pensionierte Ingenieur. Einige Jahrzehnte lebte er in Belgien, bevor er vor zwei Jahren nach Jerusalem zog.

Jetzt ist Adam Gryniewicz als Zeitzeuge für einige Tage nach Warschau zurückgekehrt, wo das "Museum der polnischen Juden" (Polin) die Ausstellung "Fremd im Haus" über das Schicksal der Juden im polnischen März 1968 zeigt. Auch bei Dutzenden anderen Veranstaltungen wird in Polen der Ereignisse von 1968 gedacht. Präsident Andrzej Duda lehnte am Donnerstag eine offizielle Entschuldigung des polnischen Staates für die Vertreibung der jüdischen Polen ab: Das "freie und unabhängige Polen von heute trägt keine Verantwortung" für die antijüdische Kampagne. Gleichzeitig sagte Duda "als Präsident": "Bitte verzeihen Sie, verzeihen Sie der Republik und den Polen, dem Polen von damals dafür, dass damals so ein schändlicher Akt begangen wurde."

Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki indes bekräftigte, er wisse nicht, warum Polen sich entschuldigen solle, und kritisierte die Polin-Ausstellung: Polens Juden seien keine Fremden gewesen, alle antisemitischen Kundgebungen seien "von der kommunistischen Macht vorbereitet" worden: "Das war eine fremde Macht, die Vertreterin einer fremden Großmacht war." Gryniewicz überzeugt die Distanzierung nicht: "Was heute in Polen passiert, der Versuch, eine andere Geschichte zu bauen - das ist nur ein weiteres Vergehen."

© SZ vom 09.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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