Ein Treffen mit Frank Castorf ist ein theatralisches und intellektuelles Erlebnis, ein Vergnügen, das sich auch mal ein paar Stunden hinziehen kann, weil der Mann so hinreißend auch Fragen beantwortet, die man gar nicht gestellt hat. Im SZ-Interview berichtet der Regisseur, warum er so gerne große Romane für das Theater adaptiert, auch schwierige Stoffe wie den Švejk des tschechischen Autors und Großtrinkers Jaroslav Hašek.
"Im Sport ist Überforderung noch möglich"
Castorfs jüngstes Fünf-Stunden-Trommelfeuer am Münchner Residenztheater verlangt den Zuschauern einiges ab. Aber gerade das reize ihn, die Überforderung von Schauspielern und Zuschauern: "Kunst braucht Wahnsinn. Fragen Sie mal Pep Guardiola beim FC Bayern nach einem Champions-League-Spiel, wie es den Fußballern geht! Im Sport ist Überforderung noch möglich, aber in der Kunst offenbar überhaupt nicht mehr zeitgemäß, da versinkt man lieber in Selbstgenügsamkeit."
Das heutige Theater in Deutschland sei feige geworden, sagt der Theatermacher aus Berlin, es herrsche eine Dienstleistungsmentalität, ohne Mut zum Risiko und zur eigenen Meinung. Theater sei eine Anstalt, in der "fast nur noch belanglose und dilettantische Stücke gespielt werden". Viele Regisseure würden nur noch die Meinung anderer bebildern und sich hinter Zeitungsartikeln verstecken. Für ihn sei das nichts: "Mich interessieren so anachronistische Dinge wie Geschichte und Literatur", sagt Castorf, "mich interessiert Dostojewski, weil ich da einen bestimmten Zustand der Gesellschaft finde, die Ausweglosigkeit, die Armseligkeit, die Zerbrechlichkeit eines Menschen."
Zukunft als Theaternomade
Der 64-Jährige äußert sich auch erstmals ausführlich zu seinem Abgang als Intendant der Berliner Volksbühne, wo er 25 Jahre lang tätig war und eine Ära geprägt hat. Traurig sei er nicht, auch nicht verbittert, dass die Berliner Kulturpolitiker seinen Vertrag nicht verlängern wollte und nun mit dem Kurator Chris Dercon eine neue Zeit beginnt. Nach dem Tod seines engen Vertrauten Bert Neumann habe er auch ein wenig die Lust an der Aufgabe verloren.
Künftig wolle er, völlig frei von administrativen Aufgaben, als Theaternomade durch Europa tingeln, von Bühne zu Bühne: So lange er arbeiten könne, sei alles gut - auch wenn er es in der Vergangenheit auch mal übertrieben habe, mit seiner überbordenden Egozentrik und exzessiven Theatermanie. "Ich verstehe, wenn die Leute sagen: Wie furchtbar, dass der Castorf so ist." Zum Abschied an der Volksbühne hat er sich noch einmal ein Großprojekt vorgenommen: Faust II. "Ich dachte, bevor alle sagen: Goethe? Kenn ich doch aus dem Film ,Fack ju Göhte', möchte ich den Berlinern gerne zeigen, dass das doch ein relativ bedeutender deutscher Dichter und Literat war."