Immer wieder fällt der Blick auf die Türme. 18 sind es, um genau zu sein, und sie bilden zusammen die Tours Aillaud in Nanterre, einem westlichen Vorort von Paris. Manchmal liegen sie weiter weg, mal näher, mal lassen sie kein Stückchen Himmel mehr zu, mal ist sogar der Horizont hinter der Stadt zu sehen. Je nach dem, in welchem der Türme die Fenster liegen, die Laurent Kronental fotografiert hat. Und auf welcher Etage.
In seinem Projekt "Les Yeux des Tours" ("Die Augen der Türme") nimmt der französische Fotograf die immer gleiche Perspektive ein - er bildet das ab, was die Bewohner sehen, wenn sie aus dem Fenster schauen. Von manchen Wohnungen aus wirkt es, als blicke man in viele kleine Augen.
Ein anderes Mal sieht es aus, als wäre man in einer Schiffskabine. Oder in einem Flugzeug. Oder einem U-Boot. Immer jedoch rahmen die Fenster den Ausblick auf die Wohnanlagen, mit denen Paris einst versuchte, die Wohnungsnot in den Griff zu bekommen.
Die futuristischen 18 Wohntürme in Nanterre heißen auch "Tours Nuages", "Wolkentürme" oder "Cité Pablo Picasso". Ihre Architektur ist einzigartig. Nicht nur, dass unzählige bunte Mosaiksteinchen die teils runden Fassaden zieren und die Fenster mal rund, mal quadratisch oder geschwungen sind.
Emile Aillaud hat sie zwischen 1973 und 1981 gebaut, inspiriert von einer Reise nach China. Mit ihrem besonderen Grundriss, den unterschiedlichen Fassadenfarben und verschieden geformten Fenstern sollten die Tours Aillaud zeigen, was alles möglich war. Aufbruch gewohnter Strukturen, Sprengung von Grenzen, ungeahnte Möglichkeiten. In den Anlagen finden mehr als 1500 Mietparteien Wohnraum.
Von Aillauds Zukunftsvision ist jedoch nicht mehr viel übrig. Inzwischen leben in den Wohntürmen vorwiegend einkommensschwache Familien, ältere Menschen (die Kronental bereits in "Souvenir d'un future" porträtierte) und Einwanderer aus dem Maghreb, dem Nahen Osten oder Indien, wie Fotograf Kronental berichtet. Die einst als futuristische Innovation gefeierten Anlagen sind inzwischen zum sozialen Brennpunkt geworden.
Kronental faszinieren die Tours Aillaud. Nicht nur äußerlich, wie sie alienhaft in einer Umgebung aus weiß-grauen, herkömmlich angelegten Hochhäusern stehen. Kronental fühlte sich an Jacques Tatis "Playtime - Tatis herrliche Zeiten" erinnert, in dem der Regisseur die moderne Welt als gleichförmig, austauschbar kritisiert. Den Fotografen interessiert auch das Innere der Türme, die Bewohner, die tagtäglich aus den Bullaugen-Fenstern in die Welt blicken.
Im Laufe der Jahre - der Fotograf arbeitet bereits seit mehr als vier Jahren in den Vororten von Paris - ließen ihn immer mehr Bewohner in ihre Wohnungen. Mit der Perspektive von drinnen verknüpft er die Hoffnung, die Aillaud damals in seiner futuristischen Architektur ausdrücken wollte, mit persönlichen Schicksalen. Was von außen zukunftsweisend wirkt, kann drinnen ganz ernüchternd und teilweise verzweifelt wirken.
"Viele Bewohner lieben den Ausblick", erzählt Kronental. Manche rege der Blick sogar zum Nachdenken an. Aber die meisten hätten sich nach Jahren an den Anblick gewöhnt und sähen in ihnen nichts Besonderes mehr. War die futuristische Vision Aillauds einst noch inspirierend, inzwischen ist sie verblasst. Wer keinen Job findet und die Miete kaum mehr bezahlen kann, wird sich nur schwer an den bunten Fassaden erfreuen können. Zumal die nach inzwischen 40 Jahren zunehmend sanierungsbedürftig sind.
Kronental zeigt auf seinen Bildern bewusst keine Bewohner. Vielmehr lässt er Möbel, Einrichtungsgegenstände oder Vorhänge sprechen. "Manchmal passen die Farben der Einrichtung hervorragend zu den Farben draußen auf der Straße. Manchmal wecken sie aber auch Erinnerungen an vergangene Jahrzehnte", erläutert der Fotograf, der selbst in einer der großen Wohnanlagen aufgewachsen ist.
Indem Kronental nicht nur den Ausblick fotografiert, sondern ihn quasi stets von den Wohnungen einrahmt, zwingt er den Betrachter dazu, auch das Leben des Einzelnen anzusehen.
Nicht weit entfernt von den Tours Aillaud liegt ein Teil von Paris' großer Bürosiedlung La Défense. Ähnlich wie er das Innen und Außen in den Wohntürmen kontrastiert, setzt Kronental diese beiden Viertel einander entgegen. "Die Wohntürme liegen zwar in der Nähe von La Défense, von Paris, aber paradoxerweise sind sie auch isoliert wie eine zeitlose Blase, eine Stadt in der Stadt quasi."
Inzwischen kosten die Tours Aillaud viel Geld, allein die Instandhaltung der Mosaikfassaden ist aufwändig und teuer. Außerdem entsprechen die Wohnungen nicht mehr den Anforderungen von heute. "Die Zukunft des Wohnungsbaus in Frankreich liegt nicht mehr darin, riesige Wohnblöcke zu bauen oder außergewöhnliche Projekte wie das von Aillaud zu schaffen", meint Kronental.
Heutzutage müssten Architekten andere Faktoren berücksichtigen. Kronental führt aus: Immer mehr Menschen leben allein, der Anteil von Arbeits- und Freizeit hat sich verschoben, viele arbeiten von zu Hause. Ganz zu schweigen von umweltfreundlichen Aspekten wie Aufladestationen für Elektroautos, Solarpanels oder einer modernen Wasseraufbereitung.
Dem Fotografen ist es wichtig, die Tours Aillaud als polarisierendes Denkmal zu bewahren. "Sie verschlucken alles, faszinieren jedoch zugleich. Sie bereiten Sorgen, verblüffen jedoch auch. Sie wirken elegant, weisen mit der Zeit aber auch Schäden auf." Diese Ambivalenz macht sie für Laurent Kronental einzigartig - innerlich wie äußerlich.