Foto-Wettbewerb Talents:Aufgehoben aus Ruinen

Lesezeit: 4 min

Kann das Kollektivgedächtnis irren? Mit ihren Videos und Filmstills aus der Serie "Unser Haus" zeigt Fotografin Anne Schumann Familienfotos aus der DDR, die nicht wirklich privat sind. Und in die der Betrachter deshalb einsteigen soll. Die letzte Folge aus der Serie "Talents", die beliebtesten Bilder, und ein Ausblick auf Neues.

Ruth Schneeberger

Große Zimmer, hohe Fenster, Holzfußboden, Biedermeiermöbel und dazwischen ein paar Kunstgegenstände: Wer die Videoarbeiten, die Filmstills und Intallationsbilder der Ausstellung "Unser Haus" von Fotografin Anne Schumann betrachtet, fühlt sich leicht an die eigene Vergangenheit erinnert - oder an die der Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern. Die Einrichtung wirkt vertraut - und doch weit weg, weil ziemlich gestrig. Wo aber sind die Bewohner? Weit und breit ist keine Menschenseele zu sehen in diesen Räumen, die doch bewohnt zu sein scheinen, oder es zumindest einmal waren. Was ist da los?

Die Künstlerin, die mit "Unser Haus - 1961-67/ Villa, Berlin-Ost" 2011 den "Talents"-Wettbewerb des jungen Fotomuseums c/o Berlin gewann, lässt den Betrachter mit dieser Frage allein. Stattdessen zeigt sie ihm Fotos aus dem Familienalbum ihrer Großeltern, die sie selbst in einer Mappe mit der Aufschrift "Unser Haus" gefunden hat, als Videoarbeit. Auf diese Weise haben Besucher der Ausstellung fast das Gefühl, selbst zu Besuch in den großelterlichen Räumlichkeiten zu sein.

Kunstkritiker Thilo Westermann aus München, der mit Schumann zusammen den Wettbewerb gewonnen hat, erklärt: "Die Präsentationsform als Dreikanalprojektion lässt genug Raum für ein Schweifen in der Vergangenheit, auch in der eigenen. Dass die Bewohner der Villa auf keinem Bild zu sehen sind, fördert das imaginäre Eintreten und die subjektive Projektion eigener Vorstellungen. Das ruhige Ein- und Ausblenden der Bilder und die Vergrößerung von Details befeuern die eigenen Assoziationen. Leichte Unschärfen und die Pausen, die Anne Schumann zwischen einzelne Bildfrequenzen schiebt, ähneln 'Gedächtnislücken' innerhalb einer Erzählung, die der Betrachter mit eigenen Bildern füllt."

Es geht also darum, das fremde Haus mit eigenen Erlebnissen, Gefühlen, Gedanken und Erinnerungen aus dem eigenen Leben und der persönlichen Familiengeschichte zu beleben und zu beseelen. "Die Bilder beginnen in dem Maße zu sprechen, in dem der Betrachter sich selbst einbringt", so Westermann. Aber es geht nicht nur darum.

Sehnsucht nach vergangener Größe

Bei genauerer Betrachtung wirkt das sorgfältig komponierte Interieur nicht durchweg geschmackssicher. Anscheinend wollten die Bewohner zum Zeitpunkt der Aufnahme Besuchern der Villa mit der Anhäufung mehr oder weniger kostbarer Raritäten imponieren, im Sinne eines Wunsches zur Repräsentation von Großbürgerlichkeit. Wenn aber klassische Porträts, Landschaftsgemälde und Gipsabgüsse antiker Skulpturen mit Arbeiten des sozialistischen Realismus und Fünfziger-Jahre-Lampen kombiniert werden, ist das nicht immer stimmig und schön, sondern einem sehr persönlichen Geschmack und dem nicht an jeder Stelle stilsicheren Mix diverser Stilepochen geschuldet. Thilo Westermann mutmaßt über die damaligen Bewohner: "Man hat sich zwar im Hier und Jetzt eingerichtet, sehnt sich aber offensichtlich nach der Größe vergangener Jahrhunderte."

Wie der Kulturwissenschaftler Karl Schlögel in seinem Buch "Im Raume lesen wir die Zeit" 2003 schreibt, lässt sich an einer Einrichtung "fast alles ablesen, was man über den Menschen in seinem Epochenraum in Erfahrung bringen kann: der technische und handwerkliche Standard, Komfort, Stil, gesellschaftliche Stellung, Geschmack, Verhältnis von Innen- und Außenwelt, Selbstverhältnis".

Die Künstlerin ergänzt: "Dem Betrachter wird schnell bewusst, dass der hier repräsentierte Lebensstil nicht der breiten Masse des damaligen DDR-Bürgers entspricht. Das setzt aber ein Geschichtswissen oder ein kollektives Erinnern voraus. Für mich ist immer entscheidend, inwiefern bestimmte Dinge erinnerbar sind und unser Wissen greift, wenn wir nicht Teil dieser Gesellschaft waren, und woher wir unser Wissen dann beziehen."

Zu diesem Punkt hat Anne Schumann noch ein weiteres Video gemacht, das unter dem Titel "Looking back at pictures dating back to 1954" Fotos aus einem amerikanischen Bildarchiv und -studio zeigt, das zum Zeitpunkt der Aufnahme, 1954, schon nicht mehr in Gebrauch war. Staub und kaputte Tapeten zeigen, dass das Studio und die alte Plattenkamera damals schon ausgedient hatten. Das Archiv ist selbst Geschichte geworden, die Bilder wirken wie eine museale Inszenierung.

Stimmt die Erinnerung?

Und eine weitere Arbeit ergänzt Schumanns Ziel, sich mit Erinnerung und kollektivem Gedächtnis auseinanderzusetzen: In ihrem Buchprojekt "Album" zeigte sie 2010 Familienbilder und Schnappschüsse, unterlegt mit den für Fotoalben üblichen schriftlichen Gedächtnisstützen wie "Tinas 1. Geburtstag", "Jugendweihe" oder "Erfindung des Strandkorbes". Zuerst irritieren den Betrachter womöglich noch die lehrbuchartigen Einträge unter den Fotos - am Ende erfährt er aber, dass es die Frau, deren Lebensgeschichte scheinbar hinter diesem Fotoalbum steckt, gar nicht gibt. Anne Schumann hat ein ganzes Leben erfunden. Und weil sie es mit passenden Schnappschüssen aus dem Leben von anderen stimmig ergänzt hat, nimmt man ihr diese Vortäuschung der Dokumentation eines in Wahrheit ungeborenen Lebens ohne weiteres ab.

Damit stößt man zum Kern von Anne Schumanns Arbeit vor, der zentralen Frage nach individuellem Erinnern - und der Gerinnung zum kollektiven Gedächtnis.

"Jede rückblickende Erzählung bedeutet eine Einschränkung des Erzählten. Geschichte und Erinnerung sind kein statisches Festschreiben, sondern ein permanenter interpretatorischer Prozess mit nur punktueller Objektivität", so Thilo Westermann.

Und er ergänzt: "Einer womöglich großen Menge übereinstimmender Erinnerungen steht eine heterogene Masse individuell gefärbter Erinnerungen und persönlicher Empfindungen gegenüber. Wie etwa im Fall von Gerhard Richters Bild 'Onkel Rudi' von 1965. Der eine mag den freundlich lächelnden Mann als herzlichen Verwandten identifizieren. Ein anderer assoziiert mit seiner Uniform die Gräuel des Nationalsozialismus."

Mit dieser letzten Folge endet nun unsere Serie "Talents". Nicht, weil es auf der Welt keine Talente mehr gäbe, sondern weil wir aus dem "Talents"-Wettbewerb des Fotomuseums c/o Berlin inzwischen ausnahmslos alle Gewinner gezeigt haben. Der Foto-Wettbewerb läuft weiter, nach wie vor werden dort alle drei Monate neue Gewinner gekürt, jährlich also vier, und wir werden weiter darüber berichten. Die bisherigen Positionen aus dem Wettbewerb aber, der 2006 ins Leben gerufen wurde, haben wir nun in wöchentlicher Folge seit Oktober 2011 alle vorgestellt. So unterschiedlich die Gewinner und Bilder, so unterschiedlich war auch das User-Interesse daran, insgesamt war es jedoch außerordentlich groß. Deshalb zeigen wir Ihnen im Folgenden noch einmal Ihre liebsten Bilder - und hier in der Übersicht:

Fotos, vor denen unsere Eltern uns immer gewarnt haben, von Stephen Waddell.

Bilder von Messies in und außerhalb ihrer häuslichen Umgebung, von Sibylle Fendt.

Erschreckende Aufnahmen unnatürlich dürrer junger Frauen, von Yvonne Thein

Bilder orientierungsloser Großstädter, von Anne Lass.

Szenen, die wir aus der Kunstgeschichte zu kennen glauben, von Timotheus Tomicek.

Fotos unserer kleinen Welt, von sehr weit oben, von Christoph Engel.

Ansichten von Maggie, die auf Reisen ist, von Ofer Wolberger.

Bilder von heutigen Indianern, von Markus Klingenhäger.

Und zuletzt Fotos von einer ganz bestimmten Form der Umweltverschmutzung, von Friederike Brandenburg.

Weil Ihnen die Serie so gut gefallen hat, werden wir sie demnächst in anderer Form fortsetzen - mit weiteren Künstlern aus anderen Gebieten. Nach einer kleinen kreativen Pause werden wir Ihnen, wie gehabt, jeden Montag, im Kulturressort den "Kunst-Montag" widmen.

Immer wieder montags soll dann in offenerer Form die Kunst eine Rolle spielen, ob als aktuelle Ausstellungsbesprechung, Vorstellung eines neuen Künstlers, eines neuen Fotobandes oder einer aufsehenerregenden oder noch unbekannten spannenden Kunst-Aktion, ob im oder außerhalb des Netzes. Wir freuen uns, wenn Sie dann wieder dabei sind. Ab demnächst jeden Montag, beim Kunst-Montag auf Süddeutsche.de.

© Süddeutsche.de/rus - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: