Bilderbuch:Auf dem Weg ins Ungewisse

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Illustration aus Peter Sis: Nicky & Vera (Foto: N/A)

Peter Sis erzählt und illustriert die Geschichte des jungen Engländers Nicholas Winton, der 1939 jüdische Kinder aus der Tschechoslowakei nach England bringt und sie rettet.

Von Siggi Seuss

Ein lichtes Blau legt sich über das Titelbild von Peter Sís' neuem Bilderbuch "Nicky & Vera" - wie ein Vorhang aus zartem Nebel, hinter dem sich unschwer die Silhouette von Big Ben erkennen lässt. Vielleicht spürt das Mädchen, das auf den Horizont zugeht, so etwas wie Angst und zarte Hoffnung.

Die kleine Vera trägt auf dem Weg ins Ungewisse nicht nur ein Köfferchen in der Hand. Wie so oft in der hochsymbolischen Bildkunst des tschechisch-amerikanischen Illustrators sehen die Betrachter auf dem Rücken des Kindes in freundlichen warmen Farben gleichsam seine Erinnerungen projiziert, die es immer mit sich trägt: das Elternhaus, Papa und Mama, das Pferdchen auf der Weide, die Ente im Dorfteich, die Katze.

Peter Sís erzählt - übersetzt von Brigitte Jakobeit - eine Geschichte von Flucht und Rettung, von totalitärer Staatsmacht, Willkür und Verfolgung, und von den Versuchen einzelner Menschen, der Ohnmacht der Opfer das in ihrer Kraft Stehende entgegenzusetzen. So, wie er es bereits in der Bilderzählung über das Leben hinter dem Eisernen Vorhang getan hat, in "Die Mauer". Eigentlich machen sich in den meisten von Peter Sís' wahren Geschichten einzelne Menschen couragiert und entdeckerfreudig, gegen alle Widerstände, auf den Weg, um unbekanntes Terrain zu erkunden. In "Nicky & Vera" wird die Geschichte des jüdischen Mädchens Vera Diamantová und des jungen Engländers Nicholas Winton erzählt, der im Dezember 1938 nach Prag fährt und Transporte für jüdische Kinder nach London organisiert. Eines dieser Kinder ist Vera.

Die elfjährige Vera war eines von 669 geretteten Kindern

Sie lebt glücklich in einem Dorf in der Nähe der Hauptstadt. Bis zum Einmarsch der deutschen Truppen, zuerst in das Sudetenland und im März 1939 in den Rest der jungen tschechoslowakischen Republik. Die jüdische Bevölkerung fürchtet um ihr Leben. Da England bereit ist, Flüchtlinge unter siebzehn Jahren aufzunehmen, entschließt sich Nicholas Pflegefamilien zu suchen und die Ausreise jüdischer Kinder zu organisieren. Im Frühjahr und Sommer verlassen acht Züge Prag in Richtung London. Am Tag des Kriegsbeginns sollte ein neunter Zug mit 250 Flüchtlingen auf die Reise gehen. Er fuhr niemals ab. Die elfjährige Vera war eines von 669 geretteten Kindern. Auch ihre ältere Schwester Eva überlebte. Der Vater wurde von den Nazis erschossen, die Mutter starb nach jahrelanger Lagerhaft kurz nach Kriegsende. Da sich 1948 in der Tschechoslowakei ein stalinistisches Regime etablierte, entschied sich Vera in England zu leben. Erst nach Jahrzehnten drang die Kunde von der Rettung der Kinder in die Öffentlichkeit. Bei einer Überraschungsshow im Fernsehen traf Nicholas Winton auf Menschen, die ihm ihre Rettung verdankten.

Natürlich würde die Geschichte auch als literarischer Text die Augen öffnen und zu Herzen gehen. Die einzigartige Kunst des Illustrators besteht jedoch darin, in einer schier unglaublichen Komposition aus filigraner Tuschzeichnung, Aquarellierung, Kreidemalerei und Handschriften einen fantastischen Bilderkosmos zu schaffen. Er verknüpft dabei den Mikrokosmos eines Menschenkindes mit dem Makrokosmos der gesellschaftlichen Kräfte, die auf das Individuum einwirken. Immer wieder taucht das mythologische Symbol von Lebenskreisen in verschiedensten Variationen auf, im Wechsel mit Szenen, die Filmbildsequenzen ähneln. In jedem Kreis, in jedem Bild aufbewahrt: Eine Erinnerung. Ein vertrauter, geborgener Lebensraum. Eltern. Tiere. Dorf. Häuser. Fluss. Die Refugien der Kindheit. Traumbilder und Fantasien - sowohl die des jüdischen Mädchens als auch des jungen Mannes aus England. Vera schrieb, basierend auf ihren Tagebuchaufzeichnungen, mehrere Bücher.

Nicholas Winton starb, vielfach geehrt, 2015 im Alter von 106 Jahren. Als Held sah er sich nie. "Ich habe nur gesehen, was getan werden musste." (ab 10 Jahre)

Peter Sís: Nicky & Vera. Ein stiller Held des Holocaust und die Kinder, die er rettete. Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit. Gerstenberg 2022. 64 Seiten, 18 Euro.

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