Filmfestival Venedig:Der Dämon im Dschungel

Lesezeit: 4 min

"True Detective"-Regisseur Cary Fukunaga zeigt bei den Filmfestspielen in Venedig sein Kindersoldaten-Drama "Beasts of No Nation" - produziert von Netflix.

Von Susan Vahabzadeh

Man sagt so dahin, dass Kinder von Haus aus unschuldig sind. Im Kern bedeutet das: Sie sind nicht verantwortlich für das, was sie tun. Wenn ihr Bewusstsein einsetzt für das, was man getan hat, ist es mit der Kindheit ein für allemal vorbei. Davon handeln die beiden Filme, mit denen der Wettbewerb der Filmfestspiele in Venedig beginnt - und sie könnten nicht unterschiedlicher davon erzählen. Der eine, Cary Fukunagas "Beasts of No Nation", als Kriegsepos über Kindersoldaten. Der andere, "Looking for Grace" von der Australierin Sue Brooks, als unspektakuläres Teenagerdrama, in dem es erst mal eine Weile so aussieht, als ginge es nur um Dinge, die die Hauptfigur Grace schon verschmerzen wird. Wird sie nicht.

"Beasts of No Nation" ist der erste Kinofilm, den das Stream-Portal Netflix selbst produziert hat

Grace fährt mit ihrer Freundin im Bus quer durch Australien, ein Junge steigt ein, der ihr gefällt - am zweiten Tag dieser Reise hat sie dann ihre Freundin mit ihrer Flirterei so vor den Kopf gestoßen, dass diese aussteigt, mitten in der Wüste, und lieber auf den nächsten Bus heimwärts wartet. Grace fährt weiter mit dem Jungen, und in einem Hotel an der Landstraße verliert sie in mehr als nur einer Hinsicht ihre Unschuld. Am nächsten Morgen ist der Junge weg, mit all ihren Sachen, und Grace läuft durch die Wüste, bis ihre Eltern sie endlich auflesen. Schließlich sieht man noch ein paar Schnipsel von der Heimfahrt in eine familiäre Katastrophe.

Diese Geschichte rollt Brooks dann immer wieder auf, aus der Sicht aller Beteiligten. Grace hat 17 000 Dollar aus dem Safe der Eltern geholt, sie wollte mit der Freundin ans andere Ende Australiens fahren, um dort ein Konzert zu besuchen, von einer Band mit dem verheißungsvollen Namen Death Dog. "Ich hab das Geld gebraucht, und ich finde, das gehört mir genauso gut wie meiner Mutter oder meinem Vater", bellt sie einen Privatdetektiv an, als der ihr vorwirft, gestohlen zu haben - in einer unbedarften Verbohrtheit, wie sie nur Teenager zustande bringen. Aber da weiß sie noch nicht, dass sie irreparablen Schaden angerichtet hat. Das kann sie nicht wissen, und das ist ganz schön, wie Sue Brooks davon erzählt: lauter kleine Details eines Domino-Effekts, und Grace wird für immer diejenige sein, die das erste Steinchen umgeworfen hat.

Cary Fukunaga holt in seinem Film weiter aus. Der Regisseur hat die erste Staffel "True Detective" inszeniert. Die Romanverfilmung "Beasts of No Nation" wird nun der erste Spielfilm sein, den der Streamingdienst Netflix selbst produziert hat und gleichzeitig im Kino und als Video on Demand herausbringen will. Ein zukunftsweisendes Stück also, und das ist der Film auch - allerdings auf andere Art als beabsichtigt. Fukunagas Hauptfigur ist ein Junge von höchstens zehn Jahren, Agu - und die Besetzung ist auf jeden Fall ein Coup: Abraham Attah spielt ihn ganz ohne Brüche, am Anfang in kindlicher Unbefangenheit, dann zunehmend verstört. Es ist ein nicht weiter bezeichnetes afrikanisches Land im Bürgerkrieg, in dem Agu aufwächst, glücklich und behütet - die Kämpfe toben anderswo. Er verkauft den Soldaten mit derselben Unbedarftheit das Gehäuse von Papas Fernseher, mit der Grace sich das Geld ihrer Eltern geschnappt hat. Der Soldat kauft ihm den Schrott für Essen ab - aber wer könnte schon einem kleinen Kerl widerstehen, der den Kopf durch ein leeres Fernsehgehäuse steckt und fröhlich verkündet: "3 D!"

Aber die Einschläge kommen näher, die Mutter bekommt mit dem Baby Platz in einem Auto, doch Agu bleibt mit Bruder, Vater und Opa heulend zurück - und dann sind die Truppen da, erschießen die Familie, zerstören das Dorf. Agu, der allein und verängstigt durch den Dschungel taumelt, wird von Rebellen aufgegriffen, die einen Kindersoldaten aus ihm machen, mit einer Mischung aus Grausamkeit, Gehirnwäsche und Drogen. Die Kinder haben nichts mehr außer Hunger und Angst.

Der Kommandant (Idris Elba) sieht zwar ein bisschen aus wie Che Guevara, aber er ist keiner - "Beasts of No Nation" ist von allen Zuordnungen und Zielen befreit, was dann tatsächlich ganz gut ist: Keine Motive, über die man streiten könnte, verklären oder dämonisieren diesen Mann . Er dämonisiert sich ganz von allein. Es gibt schon einen kleinen Jungen in diesem Bataillon, Strika, als die Rebellenarmee Agu gefangen nimmt. Er war bislang der Favorit des sich väterlich stilisierenden Kommandanten. Und wie er diesen anderen Jungen mit einer kleinen Geste degradiert, lässt den Mann des kalten Herzens, der er wirklich ist, früh erkennen. Es kommt dann noch viel schlimmer - der Kommandant ist von Macht besessen, missbraucht die Kinder in jeder erdenklichen Weise und führt, als er vom Revolutionsführer fallen gelassen wird, seine Truppe in den Untergang. Im Urwald und an den eigenen Taten irre geworden, wie Marlon Brandos Colonel Kurtz.

"Beasts of No Nation" ist wunderbar gefilmt, von Fukunaga selbst, und auch großartig geschnitten. Die Schlachten, die Agu durchlebt, werden immer surrealer, manchmal sieht er afrikanische Fantasiekrieger, manchmal ist alles rot, sie verlaufen ineinander wie ein sprunghafter Albtraum. Was Agu mit ansieht und selbst tut, wird dabei immer schrecklicher - der Kommandant hat aus seinen Soldaten Abbilder seiner selbst gemacht, sie delektieren sich an ihrer Grausamkeit und genießen die Macht. Der erste Mord fällt Agu noch schwer, aber irgendwann wird es nur ein Rest von Seele sein, der ihn dazu bringt, eine Frau einfach zu erschießen, die seine Truppe gerade langsam abschlachten will. Das Ganze ist nicht der neue "Apocalypse Now", aber trotzdem ein ziemlich guter Kriegsfilm. Eher ein Nischenstück, mit dem Netflix beweisen will, dass man mit gemischten Vertriebsformen Filme besser ans Publikum bringt. Nur: "Beasts of No Nation" hat auf einem kleinen Schirm eigentlich nichts verloren. Die Schlachterei, auf der großen Leinwand manchmal unerträglich, oder eine Totale der Rebellen, die gerade eine Stadt ausrotten - das sind Einstellungen, die fürs Kino gemacht sind.

Es geht ja nicht nur darum, etwas auf den Bildern zu erkennen - sondern um ihre Wirkung. Die Größe der Bilder definiert auch, wie nah man dran ist an dem, was man da sieht. Auf einer Leinwand sind die Wunden, die zerschossenen Schädel, die brandschatzenden Soldaten überlebensgroß. Je kleiner die Fläche ist, auf der man dieser Bilder sieht, desto weiter weg ist das Geschehen: Fukunagas Bilder vom Krieg verlieren ihren Schrecken, wenn man sie zur Winzigkeit verdammt.

© SZ vom 04.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: