61. Filmfestival in Cannes:Untot in Rot

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Mit rüstigen Veteranen startet heute Abend das 61. Filmfestival in Cannes: Campino, Che Guevara, Dennis Hopper und Wim Wenders im Wettbewerb der Wechselbälger.

Tobias Kniebe

Am Anfang darf man nicht zu viel erwarten. Grauer Himmel, Nieselregen und ein völlig leerer Strand, das sind hier die üblichen Startschwierigkeiten. Cannes beginnt träge und steigert sich dann immer mehr, das war offenbar schon immer so. Selbst im legendären Jahr 1968, als in Paris Studenten und Arbeiter streikten und die halbe Welt schon in Aufruhr war, dauerte es noch sieben Tage, bis Truffaut, Godard und Co. schließlich in Aktion traten, um alle weiteren Projektionen zu verhindern und das Festival zum Abbruch zu zwingen.

Auch auf der Leinwand beginnt es diesmal düster: ein Festival des Sehens, das seine Zuschauer sofort mit dem Schrecken des Erblindens konfrontiert - das geht ja schon mal gut los. Der brasilianische Regisseur Fernando Meirelles hat in "Blindness - Die Stadt der Blinden" einen Roman des portugiesischen Literatur-Nobelpreisträgers José Saramago adaptiert.

Die Tatsache, dass Blindheit in diesem surrealistischen Gesellschaftsbild eine ansteckende Krankheit ist, die möglicherweise dadurch ausgelöst wird, dass man die falschen Bilder gesehen hat - das dürfte im vollbesetzten Festivalkino besondere Wirkung entfalten. Der Arzt, der zu den ersten Opfern gehört, wird schnell in ein brutal bewachtes Quarantäne-Camp eingewiesen, und seine Frau, gespielt von Julianne Moore, kommt mit. Sie tut nur so, als ob sie blind sei, tatsächlich ist sie gegen die Krankheit offenbar immun - und sie wird dann auch eine Gruppe von Verlorenen aus der Gefangenschaft führen.

Das könnte also ein bewegender, wenn auch nicht unbedingt beschwingter Eröffnungsfilm werden - und wenn man sich in die Geschichten vertieft, die in den nächsten zehn Tagen in Cannes zu erwarten sind, stellt man fest, dass die Filmemacher des Wettbewerbs sich generell an schwere, dramaturgisch heikle Sujets gewagt haben. Clint Eastwood zum Beispiel: In "The Changeling (Das Wechselbalg)" nimmt er sich eines Mordfalls an, der Ende der zwanziger Jahre in Kalifornien Aufsehen erregte, die sogenannten "Wineville Chicken Murders".

Eine einzige gerade Linie

Da wird eine Mutter (Angelina Jolie) zunächst mit dem spurlosen Verschwinden ihres zehnjährigen Sohnes konfrontiert, dann versucht die Polizei, ein fremdes Kind als das ihre auszugeben, und als sie dagegen aufbegehrt, landet sie in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie. Angelina Jolie und das Thema Mutterschaft, das passt natürlich, im wirklichen Leben ist sie ja auch schon wieder hochschwanger und kann deshalb eher nicht auf dem roten Teppich präsent sein. Andererseits darf man den Namen des realen Falls auch nicht so deuten, als seien damals nur ein paar Hühner umgebracht worden: Diese Mutter wird ihren Sohn nie wiedersehen, so viel ist klar.

Genauso klar ist der Ausgang, den das revolutionäre Leben des Che Guevara nimmt: Im Hochland der Anden wird er von Soldaten des bolivianischen Regimes gefangengenommen und erschossen. Einerseits natürlich der Beginn des Che-Mythos, andererseits eine Antiklimax, die jede Filmbiographie vor gewissen Herausforderungen stellt. Lange haben Steven Soderbergh und der Großmelancholiker Benicio Del Toro als Produzent und Che-Darsteller an diesem Problem herumlaboriert: Gerade diese letzte Guerilla-Aktion in Bolivien war ein so eindeutiger Fehlschlag, mit hoffnungslos unterlegenen Kämpfern, indifferenten Bauern, Selbstzerfleischung und Verrat, dass sich daraus keine Heldengeschichte mehr destillieren lässt.

Als Antwort präsentiert Soderbergh nun gleich zwei Filme als "Che"-Doublefeature: Der erste zeigt die Hoffnung. Er beginnt mit Che und Fidel Castro, wie sie 1956 in Kuba an Land gehen und einen scheinbar aussichtslosen Kampf beginnen, der sie drei Jahre später im Triumph nach Havanna führt. Der zweite handelt vom Untergang eines Unbeugsamen, der bis zuletzt keine Zweifel zulässt. Dazu hat Soderbergh angemerkt, dass Che als Figur etwas fehlt, was für das Kino eigentlich essentiell ist: Er mache überhaupt keine Entwicklung durch, sein Leben sei eine einzige gerade Linie.

Auf der nächsten Seite: Wie Woody Allens "touristische Phase" weitergeht und Wim Wenders sich mit Tote-Hosen-Sänger Campino als Düsseldorfer Lokalpatriot outet.

Soderbergh, das weiß man schon seit "Sex, Lügen und Videotape", ist in Cannes durchaus für einen Hauptpreis gut - er hat allerdings harte Konkurrenz durch die belgischen Dardenne-Brüder, die inzwischen wie zwei Kino-Weise aussehen. Dreimal waren sie bisher im Wettbewerb vertreten, zweimal haben sie die Goldene Palme gewonnen - 1999 für "Rosetta" und dann 2005 für "Das Kind".

Abgrundtief menschlich

Auch ihre neue Geschichte klingt wieder nach einem jener leisen und doch abgrundtief menschlichen Dramen, die sie so wunderbar zu erzählen wissen: "Le Silence de Lorna (Lornas Schweigen)" handelt von einer jungen Albanerin, die im Dienst der Mafia und im Tausch für die belgische Staatsbürgerschaft eine Scheinehe eingeht - mit der Zusatzklausel, dass der ahnungslose Ehemann in dem Moment sterben soll, wo das große Geschäft beginnt. Für diese Szenen einer Ehe, wieder mit der charismatischen Präsenz von Jérémie Renier aus "Das Kind", sind die Erwartungen jedenfalls hoch.

Was man bei Wim Wenders eher nicht mehr so sagen würde. "The Palermo Shooting" erzählt von einem Düsseldorfer Starfotografen, gespielt vom Tote- Hosen-Sänger Campino, dessen Jetset-Leben plötzlich auseinanderfällt, der nur noch entkommen will, und zwar nach Sizilien. Schon vorab propagierten Wenders und sein Hauptdarsteller, im schönsten Einklang mit nordrhein-westfälischen Filmpolitikern, eine neue Düsseldorf-Seligkeit, die doch eher befremdlich wirkt.

Bei Campino ist der Fall von Lokalpatriotismus ja klar, aber das Gute an Wenders war doch immer, dass er seine Herkunft aus Düsseldorf all die Jahre vergessen machen konnte. Da bleibt nur zu hoffen, dass sein neunter Wettbewerbsbeitrag in Cannes doch schnell den Sprung nach Palermo schafft, wo dann auch der große Dennis Hopper auftauchen soll.

Die Alten haben noch ihren Spaß

Noch weniger weiß man über "Wolke 9" von Andreas Dresen, den deutschen Beitrag in der Nebenreihe "Un Certain Regard". Nur so viel: Es geht um Leidenschaft, Herzklopfen, Untreue und Sex, allerdings mit zwei Protagonisten, die schon Mitte sechzig bis Mitte siebzig sind. Ein Foto vorab zeigt diese beiden Alten im Bett, gespielt von Ursula Werner und Horst Westphal, lächelnd, errötend, erschöpft und beseelt: Das könnte, falls Dresen das Versprechen dieses Bildes wahrmachen kann, ein ziemlich radikaler Film werden - die Eroberung eines Lebensbereichs, den die Gegenwart praktisch mit einem Bilderverbot belegt hat. Es steckt auch ein Optimismus darin, der sich markant von dem Großpanorama aus Krankheit, Mord, Verzweiflung, Scheitern, Verrat und Flucht abhebt, das man im Programm von Cannes dieses Jahr erkennen kann.

Wenigstens die Alten haben noch ihren Spaß, während der Rest der Welt in Pessimismus und Problemen versinkt. Die Hoffnung auf gute Laune ruht jedenfalls auf ein paar rüstigen Veteranen - allen voran natürlich Indiana Jones, der außer Konkurrenz am Sonntag seine Weltpremiere feiert, Spielberg, Lucas, Ford, alle dabei, plus Cate Blanchett als eine sicherlich umwerfende Russenschurkin, die - wenn man den Bannern am Carlton glauben darf - diesmal offenbar schwarzhaarig ist.

Rein zur Zerstreuung kommt Woody Allen mit "Vicky Christina Barcelona", der seine nun schon mehrjährige "touristische Phase" weitertreibt und mit Scarlett Johansson und Javier Bardem in Barcelona gedreht hat. Schließlich Maradona, ja richtig, der argentinische Fußballgott, der von Emir Kusturica porträtiert wurde und mit dem serbischen Filmemacher inzwischen offenbar ein unzertrennliches Duo bildet.

All das natürlich unter der Voraussetzung, dass das Festival reibungslos über die Bühne geht. Störungen und Probleme sind zwar nicht zu erwarten, und ein revolutionärer Geist wie im Jahr 1968 schon gar nicht. Sollte aber etwas wirklich Dramatisches passieren - dann sicher nicht vor dem siebten Tag.

© SZ vom 14.5.2008/ehr - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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