61. Filmfestival in Cannes:Grenzen der Imagination

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Bittere Erkenntnis: Die Filme des diesjährigen Wettbewerbs in Cannes wollen die Wirklichkeit abbilden. Am Ende zeugen sie aber nur von Erschöpfung und Frustration.

Tobias Kniebe

Gerade jene Momente, in denen die Möglichkeiten des Kinos eigentlich unbegrenzt sein sollten, waren diesmal die besonderen Momente der Wahrheit in Cannes. Zum Beispiel bei Woody Allen: Der Mann gönnt sich also einen spanisch-amerikanischen Liebesreigen, an den schönsten Schauplätzen von Barcelona und Umgebung, mit Schauspielern wie Scarlett Johansson, Javier Bardem und Penélope Cruz.

Charlie Kaufmans "Synecdoche, New York" - hier mit Produzent Spike Jonze (M.) und Hauptdarsteller Philipp Seymour Hoffman (rechts) - ist der einzige Erstling im Wettbewerb. (Foto: Foto: AFP)

Besser geht es nicht, mehr Startkapital kann man nicht verlangen, da könnte er die ganzen komischen und traurigen Beziehungswahrheiten seiner mittleren Jahre noch einmal brillant aktualisieren. Stattdessen liefert er mit "Vicky Cristina Barcelona": Iberienstadl. Da zeigen sich dann plötzlich Grenzen der Imagination, ja der Fiktion überhaupt, die nicht nur Altersschwäche sein können, oder Routine, oder Zufall.

Sie quälen erkennbar auch Steven Spielberg und seinen vierten "Indiana Jones", und genauso quälen sie den klassischen französischen Autorenfilm, der seit einiger Zeit immer mehr zur Karikatur seiner selbst verkommt, hier demonstriert von Arnaud Desplechin und besonders quälend von Philippe Garrel.

Kann man den eigenen Einfällen überhaupt noch trauen, der puren Lust am Ausgedachten, am enthemmten Fabulieren? Wohl besser nicht, das ist am Ende als eine Art Konsens zu erkennen - eine durchaus auch bittere Erkenntnis in den interessanteren Beiträgen dieses Wettbewerbs. Mehr denn je lehnen sich die Filmemacher der Wirklichkeit an, versuchen Energie aus den wahren Ereignissen zu ziehen, die sie beschreiben, überschreiten die Grenze zum Dokumentarischen, vertrauen auf die Kraft realer Schauplätze oder auf Darsteller, die nicht nur aus dem Kino kommen, sondern auch mitten aus dem Leben.

Fast finstere Konsequenz

Die Frage aber, wie das Publikum mit all dem zurechtkommen wird, wie sich das alles mit Erwartungen verträgt, die außerhalb eines Festivals gelten, bleibt erst einmal offen. Verleiher und Filmeinkäufer, jene Teilnehmer des großen Markts, der den Wettbewerb begleitet und zu diesem in einer interessanten Wechselbeziehung steht, wirkten ratlos wie selten zuvor. Wenn die Filmauswahl von Cannes also einen Ausblick auf die nächsten zwölf Monate Kino gibt, muss man sich auf Erschöpfung und Frustration gegenüber den alten Regeln und Erzählformen einstellen - ohne dass schon ein Durchbruch zur Erneuerung gefeiert werden könnte.

Aber die Entschlossenheit, sich den aktuellen Problemen des Kinoerzählens zu stellen, mit der nötigen Chuzpe und einer manchmal fast finsteren Konsequenz, sie ist da und immer wieder zu spüren.

Beim fast 78-jährigen, aber immer noch hellwachen Clint Eastwood zum Beispiel, der in "The Exchange" den herzergreifend traurigen Fall einer realen Kindesentführung in eine noch viel schrecklichere, ebenfalls reale Serienkillergeschichte münden lässt; bei Steven Soderbergh, der sich viereinhalb Stunden Zeit nimmt, um sein in jahrelangen Recherchen gesammeltes Wissen über "Che" in beinahe dokumentarisch genauen, aber am Ende völlig undramatisierten Revolutions-Vignetten aneinanderzureihen; bei Pablo Trapero aus Argentinien, der in "Leonera" in den Frauengefängnissen dreht, um seiner Mutter-Kind-Geschichte die nötige Durchschlagskraft zu verleihen; bei den Dardenne-Brüder aus Belgien, die mit jedem Film näher an die Underdogs der Wohlstandfestung Europa heranzurücken scheinen; und schließlich bei Laurent Cantet aus Frankreich, der in "Entre les murs - Zwischen den Mauern" nichts anderes tut, als einen Französischlehrer durch das faszinierend komplexe Leben einer Banlieue-Schule voller Migrantenkinder zu begleiten.

"Wir wollen spüren, dass die Filmemacher sich der Zeit sehr bewusst sind, in der sie leben" - dieses Motto hatte der Jurypräsident Sean Penn schon ganz am Anfang des Festivals ausgegeben. Die Antwort der Filmemacher darauf ist überraschend eindeutig ausgefallen - als Hinwendung zu einer Wirklichkeit, die dramaturgisch einfach nicht mehr sauber aufgehen will, die sich dagegen sträubt, mit einer Lösung, Katharsis, Erkenntnis am Ende in zwei Stunden eingefangen und gebannt zu werden.

Wer mehr vom Kino erwartet als puren Eskapismus, der sollte dieses Problem bitteschön einfach aushalten und nicht gleich sauer werden - das ist die knappe Replik, die Soderbergh seinen erbosten Kritikern in Cannes gegeben hat. Angesichts globaler Krisenzusammenhänge, deren haarsträubende Komplexität immer mehr aus den Hintergrundanalysen heraustritt und zum Stoff der Hauptnachrichten wird, balanciert ein philosophischer Erzählansatz à la Wim Wenders, der wirklich noch die letzten Dinge erklären will, längst auf der Messerschneide der Lächerlichkeit - und stürzt mit "Palermo Shooting" schmerzhaft ab. Die Momente der Wahrheit in Cannes, so unbefriedigend das sein mag - sie zeigen eben vor allem, was nicht mehr geht. Was geht, und was vor allem vorangeht, dafür gilt einstweilen das Motto: Wir arbeiten dran.

© SZ vom 26.05.2008/cag - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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