Filmfest München:Achtung, Weltuntergang

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Der Regisseur Werner Herzog hat einen Filmessay über Freud und Leid der vernetzten Welt gedreht: Das Ergebnis heißt "Lo and Behold" und erzählt vom digitalen Zeitalter als Traum und als Dystopie.

Von Tobias Kniebe

Die unglaublichen Träume unserer digitalen Zukunft, die unglaublichen Gefahren einer restlos vernetzten Welt - muss sich jetzt auch noch Werner Herzog dieses Themas annehmen? Dumme Frage. Wenn es irgendwo Geld gibt, um sofort loszudrehen, macht er sich auf den Weg - gänzlich unfähig, sich auch nur einen Tag auf der eigenen Legende auszuruhen.

So zeigt das Münchner Filmfest jetzt "Lo and Behold - Träumereien einer vernetzten Welt", eine Technik-Doku mit dem einzigartigen, unverkennbar herzogesken Stempel. Das beginnt mit seiner raunenden, oft pathetisch vibrierenden englischen Voice-over-Stimme, die inzwischen einen eigenen Stern auf dem Hollywood Walk of Fame verdient hat - so unverkennbar ist sie, und so oft imitiert.

Aber auch dieses eigensinnige Gespür für Themen! Zwar ist ständig vom möglichen Zusammenbruch der Netze und der ganzen elektrischen Infrastruktur die Rede, aber haben Sie je vom sogenannten "Carrington Event" gehört? Selbst Supernerds müssen da passen. Folgt man aber Herzog, sollte die Menschheit dringend darüber Bescheid wissen. Es geht um die stärkste jemals beobachtete Sonneneruption samt magnetischem Sturm, die im Jahr 1859 stattfand.

An Netzwerken gab es damals nur Telegrafenleitungen - aber wenn man Zeitzeugen glauben darf, spielten diese völlig verrückt, spuckten Funken und Feuer. Alle paar hundert Jahre wird so eine Mega-Eruption erwartet, die nächste kommt also bestimmt. Und was bitte wird sie mit den Netzwerken anrichten, von denen heute alles abhängt? "So ein Ausbruch", raunt Herzog, "könnte unsere moderne Zivilisation annullieren." Eine heftig tätowierte Astronomin namens Lucianne Walkowicz vom Adler Planetarium in Chicago bestätigt das - und man weiß nicht recht, was man dieser düsteren wissenschaftlichen Prognose entgegenhalten sollte.

Diese apokalyptische Episode dauert dann aber auch nur fünf Minuten, denn die Neugier treibt Herzog weiter. Zukunftshoffnungen und Katastrophenszenarien wechseln sich ab, und der Filmemacher sieht seine Aufgabe vor allem im Staunen, nicht in eindeutigen Bewertungen. Ein Forscher nutzt die Kreativität der Netzgemeinde, um neue Moleküle zu entwerfen, ein Stanford-Professor schwärmt von der Lernfähigkeit selbstfahrender Autos, und eine Einsiedlerin erklärt unter Tränen, warum sie vor den physischen Qualen der Mobilfunkstrahlung in die Wälder West Virginias fliehen musste. Die sind strahlungsfrei, weil dort eines der größten Radioteleskope steht. Dann darf Elon Musk vom Versprechen der Mars-Besiedlung berichten, aber gleich danach gibt es wieder eine Mutter, die Hassmails mit Bildern ihrer durch einen Autounfall verstümmelten Tochter bekam und das Internet als "Manifestation des Antichristen" identifiziert hat.

Bezahlt hat das Ganze die Firma Netscout, die Netzwerksicherheit verkauft und den Film sicher als Kundenwerbung gedacht hat. In einem Trailer durften Netscout-Köpfe sich auch noch als "Wächter des Netzes" aufspielen - im fertigen Film aber nicht mehr. Wenn man nämlich glaubt, man habe den großen Werner Herzog für die eigenen Zwecke eingespannt, kann es sehr gut passieren, dass es in Wahrheit umgekehrt ist.

© SZ vom 23.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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