Festival:Da schmilzt sogar der Schnee von gestern

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Die Band Die Cuba Boarischen hat sich zur Formation Cuba Boarisch 2.0 weiter entwickelt. Mit dabei sind nach wie vor Leo Meixner (Mitte) und die Kubanerin Yinet Rojas Cardona, hier bei ihrem Auftritt im Festzelt. (Foto: Marco Einfeldt)

Die siebte "Brass Wiesn" in Eching bringt Alt und Jung zusammen, Tradition und Opposition

Von Michael Zirnstein, Eching

"Wir hatten echt Schiss", sagt Michael Well nachher, als er sich am Backstage-Gatter mit einigen 40 Jahre jüngeren Fans fotografieren lässt. Was kann ihn und seinen Bruder Stofferl noch einschüchtern? Heute, da die beiden sich seit fast 50 Jahren mit den drei Gewalten im Freistaat (CSU, Katholische Kirche, Feuerwehr) anlegen, 1986 beim Open-Air in Burglengenfeld mit 100 000 Demonstranten die Abwehrschlacht gegen die Atommüllrecyclinganlage gewannen und sogar das Platzen ihrer Biermösl Blosn überstanden? Höchstens eine einzelne, von drei bereits zum Festivalstart am Donnerstagabend Angetrunkenen vor die Bühne geschleppte Bierbank im sonst ernüchternd leeren 3000-Mann-Zelt auf der "Brass Wiesn".

Die Legenden der bayerischen Gegenkultur quasi als Vorgruppe von 60 Bands auf dem Festival, dessen sechs Bühnen am Freitag und Samstag noch unter dem Getöse von 15 000 Gästen erbeben sollten. Nicht mal die sonst omnipräsente Ansagerin hat man Michael, Stofferl und Karli, den Well-Brüdern aus'm Biermoos, geschickt. Was vielleicht gut ist, weil die Aufgedrehte wohl selbst bei ihnen Senftuben vom Bühnensponsor in die (noch nicht versammelte) Menge werfen würde. "Wenn's wenigstens der Händlmaier wäre ...", wird Stofferl Well später sagen. Wenn so ein Musikfestival so groß werde, dann brauche es heutzutage Werbeeinnahmen - aber "dann wird es unfrei". Der ewig lausbübische 58-Jährige zuckt die Schultern, das sei schon okay. Die Jugend in der Provinz sei gerade sehr selbstbewusst, gerade die musizierende, "es ist gut, dass sie so ein Riesenfest haben, wo sie ausbrechen können, das ist eine Art Rock'n'Roll".

Statt "Sex und Drugs" gibt's aber "Bussis, Bier und Blasmusik", wie auf T-Shirts steht, die man - neuer Wiesn-Trend - zu Dirndl und Birkenstock oder "Kiss My Brass"-Kappe mit Gamsbärtchen trägt. Brass-Kultur ist ein Lifestyle. Viele sind mit Traktoren und LKW auf den Zeltplatz gewalzt, haben sich hinter Burgen aus Bauwägen verschanzt. Eine Gruppe hat einen siffenden Hügel Schnee abgeladen, den sie seit vergangenem Winter in einer Grube aufbewahrt hat, extra für diese vier Tage. Die Echinger Wiesn ist Ballermann und Hochamt für Burschenvereine und Dorfkapellen. Hier feiern sie sich und ihre Helden aus den Bierzelten. Wie deren Superman Josef Menzl, dessen Kapelle von virtuos bis deppert alles draufhat; oder die Fäatschbänkler, deren Hüpf-Hit "Can You Englisch Please" einige andere Gruppen prima nachspielen, bevor sich die Schweizer selbst zum Finale am Samstag dann eher als Glücksbärchi-Brass-Bande des Après-Ski präsentieren.

Was machen da die Well-Brüder bei ihrer Brass-Wiesn-Premiere? Alles wie immer und das ganz famos: Spaß, Musik und Opposition. Dass ihr Anti-AfD-Gag "Asyl für Deppen" am allerlautesten bejubelt wird, macht Mut. "Die Jugend ist nicht unpolitisch", stellt Michael Well hernach erfreut fest, "die hat nur andere Ausdrucksformen." Hier betet man nicht der Obrigkeit nach, hier zelebriert man die Wilderei. Schön zeigt sich das bei den Superstars des Dialekt-Hip-Hop Dicht und Ergreifend. Die zeigen, längst von Niederbayern nach Berlin gezogen, in "Grias de Gott scheene Gegend" reimsprudelnd den (sittlichen) Verfall ihrer Heimat auf, und das mit den identischen Wörtern wie die Brüder aus dem Biermoos: Audi, BMW, Kreisverkehr, Kerosin, Syrien, Biogas-Anlage. So mischen die Rapper George Urkwell und Lef Dutti die Menge auf, das ist agil und brachial, wenn auch nicht so kabarettkomisch wie bei den Wells. Stofferl indes rappt sich auch in Rage über den Milchpreis: "40 Cent oder der Müllermilch brennt ..."

Alt und Jung sind beisammen. Musikalisch macht den instrumentalhochbegabten Brüdern eh keiner was vor (nicht mal das zurecht bejubelte Zwei-Burschen-ein-Madl-Blechblasorchester Die Fexer). Ihre virtuosen Variationen von "Mein Hut, der hat drei Ecken" werden gefeiert und mehr noch: verstanden. Wie das eben nur Musikanten können. Und das sind die Meisten im nun doch gesteckt vollen Bierzelt, die "Lauda! Lauda!" schreien. Dass das Publikum leiser wird, ist längst keine Option mehr. Die Wells sind beglückt ("Hatte was von Straßenmusik!") und nehmen von ihrem Eching-Debüt eine Erfahrung mit: "Das hat eine Offenheit. Die kennen den Unterschied zwischen Volksmusik und konservativ", sagt Stofferl Well "als wir angefangen haben, hatte das was Muffiges. Heute ist es Party." Es stört ihn nicht im Geringsten.

© SZ vom 05.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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