Ferdinand von Schirach: Schuld:Im Angesicht des Verbrechens

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Der sadistische Ehemann, der seine Frau jahrelang quält, wird schließlich im Schlaf erschlagen. Wer ist Täter, wer ist Opfer? In den Kurzgeschichten des Anwalts Ferdinand von Schirach geht es um alles - nur nicht um Schuld.

Heribert Prantl

In Deutschland gibt es hundertfünfzigtausend Rechtsanwälte; unter ihnen sind viele, die über ihre Fälle so beredt erzählen können, dass man ihnen gern zuhört. Unter den hundertfünfzigtausend deutschen Rechtsanwälten wiederum gibt es zweieinhalbtausend, die auf Strafverteidigung spezialisiert sind. Wenn Strafverteidiger beim Abendessen von ihren Fällen erzählen, lässt man die Spaghetti vongole gern kalt werden. Das Strafrecht ist nun einmal, weil es dabei um Leib und Leben geht, ein erregendes Fach. Es ist so erregend, dass man kein besonders guter Erzähler sein muss, um sein Publikum zu finden; der Fall erzählt sich selbst. Wenn man ein sehr guter Erzähler ist wie der Berliner Strafverteidiger Ferdinand von Schirach: umso besser.

Ferdinand von Schirach ist nicht der erste Anwalt, der Bücher schreibt: Geschichten eines Strafverteidigers erzählen sich ohnehin fast von selbst. Und wenn man ein sehr guter Erzähler wie von Schirach ist: umso besser. (Foto: dpa)

Schirach ist ein geschickter Protokollant von erschreckenden und verstörenden, skurrilen und tragischen Begebenheiten. Sein Buch heißt Schuld, aber er sucht keine Schuldigen. Er richtet nicht, er schreibt nur auf. Er tut das in einer genial nüchternen, furios kargen, staubtrockenen Sprache. Sie ist die Übersetzung der Aktensprache ins Literarische. Da stört keine juristische Floskel, da klingelt kein Paragraphendeutsch. Gelegentlich hat diese Übersetzung allerdings Aussetzer, offenbar dort, wo Schirach bewusst literarisch sein will. Dann fabuliert er unheilschwanger von einem riesigen schwarzen Hund, der passend zur Tat über die Straße läuft. Oder aber das morbide Wissen des Strafverteidigers geht mit ihm durch, etwa dort, wo er zu schwelgerischen Erklärungen darüber ansetzt, was im Körper eines Menschen passiert, der sich erhängt.

Fast ein wenig unangenehm wird es, wenn Schirach die Position des protokollierenden Erzählers verlässt und sich selbst als Akteur einführt, also als Strafverteidiger im just erzählten Fall. In Schirachs Kurzgeschichten fällt - meist gegen Ende - das Wort "ich", und dann reißt es einen beim Lesen. Man kann dann das Gefühl haben, nicht mehr eine faszinierende Kriminalgeschichte, sondern eine Werbeschrift für die Kanzlei Schirach in der Hand zu halten.

Gegen solche Werbung ist, seitdem das Werbeverbot für Anwälte gefallen ist, nichts zu sagen, zumal dann nicht, wenn die Werbung gut gemacht ist. Aber zum einen möchte man für eine Werbeschrift nicht 17,95 Euro bezahlen und zum anderen kann man das unbehagliche Gefühl haben, dass da ein Anwalt zur Gewinnung neuer Mandate seine alten ausschlachtet. Früher hätte man gesagt: Das ist standeswidrig. Heute sagt man: Das ist Literatur. Es stimmt beides.

Ein Strafrechtsfall handelt vom Elend des Menschen; von seinem tiefen Fall und oft von den merkwürdigen, manchmal unglaublichen Zufällen und Zufälligkeiten, die zu diesem Fall geführt haben. Zwischen roten Aktendeckeln liegen - geordnet, gelocht, geheftet und nummeriert - die Katastrophen des Alltags. Die Aktendeckel tragen üblicherweise die Aktenzeichen Ks Js, sie kennzeichnen Kapitaldelikte. Diese gelten als gelöst, wenn sie mit einem Urteil enden. Aber diese Urteile - in Schirachs Buch gibt es dafür einige Beispiele - sind oft nur eine Art Hängebrücke über einem Abgrund, den die Ermittlungen nicht ausleuchten konnten und der mitunter so tief ist, dass man auf seinem Grund Schuld nicht mehr erkennen kann.

Das ist die Erkenntnis, die man aus Schirachs Büchlein (das zu Unrecht Schuld heißt, weil es darin um Schuld nie geht) gewinnen kann. Es ist eine Erkenntnis, die Boulevardzeitungs-Schlagzeilen in Frage stellt: Verbrecher sind nicht einfach Verbrecher, weil sie Verbrecher sind. Sie sind Verbrecher geworden. Das ist eigentlich eine banale Feststellung, die in der Öffentlichkeit oft verärgert als billige Entschuldigung für Täter abgetan wird.

Aber in Schirachs Kurzgeschichten ist diese Banalität nicht mehr banal, sondern eine packende Einsicht; manchmal wehrt man sich beim Lesen innerlich dagegen, den Täter als Verbrecher zu bezeichnen, weil einem das Opfer als viel verbrecherischer vorkommt: Der sadistische Ehemann, der seine Frau halbtot schlägt, sie jahrelang quält, sie aus dem Napf neben dem Bett fressen lässt, wird schließlich im Schlaf erschlagen. Schirach obduziert den äußeren Ablauf des Falles. Wer ist Täter, wer ist Opfer? Schirach berichtet, wie eigenwillig behutsam der Richter mit dieser Frage umgeht. Man ist angerührt. Schirach psychologisiert nicht. Er erklärt nicht. An einer Stelle schreibt er einfach, dass es keine Erklärung gibt. Er zwingt damit den Leser, die Erklärungen selber zu finden.

Kriminalität ist nicht etwas, das der Gesellschaft von außen angetan wird. Verbrecher sind nicht Aliens, die woanders, auf dem dunklen Kontinent des Bösen, zu Hause sind, und die, trotz aller Sicherheitsmaßnahmen, in die normale Welt einfallen. Nein. Die Täter sind in der normalen Welt, im Nachbarhaus, in der Wohnung nebenan, in der eigenen Haut. Jeder muss sich daher eigentlich selber in Sicherungsverwahrung nehmen. Wenn die Verwandlung des potentiellen Täters in einen realen Täter nicht stattgefunden hat, dann ist das nicht immer eigener Verdienst, womöglich hat man einfach nur Glück gehabt. Schirach geht in seinem Buch solchen Gedanken nicht nach; er löst sie aber aus. Schirach ist nicht nachdenklich, aber er kann nachdenklich machen.

Literatur ist, wenn sich der Mensch in einen Käfer verwandelt. Strafrecht ist, wenn sich der Mensch in einen Täter verwandelt. Die Gründe für die Verwandlung sind im Strafrecht oft genauso rätselhaft wie in der Literatur. Warum wird ein liebenswürdiger junger Mann, der um eine junge Frau wirbt, mit ihr eine Familie gründet, nach ein paar Jahren zu ihrem perversen Peiniger, zu einem Päderasten, der ankündigt, nun auch noch das gemeinsame Kind zu missbrauchen? Warum werden die Mitglieder einer Blaskapelle ("es waren ordentliche Männer mit ordentlichen Berufen") gemeinschaftlich zu Vergewaltigern? Warum können sie sich, mit Hilfe des Rechts und der Strafverteidigung, straflos in feiste Biedermänner zurückverwandeln?

Warum erkennt ein Gericht nicht, dass ein Schulmädchen den Mann ihrer Lieblingslehrerin nur deshalb des Missbrauchs verdächtigt, weil es die Lehrerin für sich haben möchte? Warum hört sich keiner den schuldlos schuldig Gesprochenen an, warum muss er die Haft bis auf den letzten Tag verbüßen? Strafjustiz ist eine bisweilen irre, bisweilen eine fürsorgliche Veranstaltung. Schirach zeigt ein paar kleine Ausschnitte.

Ferdinand von Schirach ist nicht der erste deutsche Rechtsanwalt, der Anwaltsgeschichten schreibt. Er hat ihnen aber das Anekdotische, das Juristengeburtstagsgeschenkmäßige weggeschrieben. Schirachs Geschichten sind einfach nur gut geschriebene Erinnerungen, wie es die des verstorbenen Anwalts Otto Gritschneder sind. Schirachs Geschichten sind auch keine Abrechnung mit einer Strafjustiz, in der "Gerechtigkeit nur geübt" wird, wie sie der frühere SZ-Gerichtsreporter Erwin Tochtermann in seinem grandiosen, aber vergessenen Buch über die "Leichen im Keller der bayerischen Justiz" niedergelegt hat. Schirach besitzt das Talent, Strafrechtsfälle klug auszuwerten. Und er hat offenbar das Glück, dass ihm in seiner Praxis die Fälle über den Weg laufen, deren Plot man aus den Strafrechtsvorlesungen kennt.

Gleich die erste Geschichte, die straflos ausgegangene Gruppenvergewaltigung, ist in ihrem Kern ein Klassiker des Strafrechts; Studenten erklärt man so die letzten Konsequenzen des Satzes in dubio pro reo. Und die letzte Geschichte des Bandes, eine heitere Verwechslungsgeschichte, ist die Schirachsche Variante eines alten Juristenkalauers. Wohl dem Strafverteidiger, dem solche Fälle widerfahren. Und wohl dem Schriftsteller, der seine Geschichten auf diese Weise mit dem Stempel der Authentizität versehen kann. Das ist die Macht des Schicksals.

FERDINAND VON SCHIRACH: Schuld. Stories. Piper Verlag, München 2010, 208 Seiten, 17,95 Euro.

© SZ vom 13.08.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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