Feminismus:Schildkröte unterm Bett

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Annett Gröschner kennt "Berolinas zornige Töchter" und erzählt von der Frauenbewegung in Westberlin seit 1968.

Von Jens Bisky

Im Dezember 1967 trafen sich SDS-ler in einer Charlottenburger Kommune, nicht weit vom Kurfürstendamm, in der auch Peter Schneider wohnte, der spätere Verfasser der Erzählung "Lenz". Als die Filmstudentin Helke Sander den Genossen vorschlug, sich doch mal mit dem Frauenbild der Springer-Presse zu befassen, schickte Schneider sie zu seiner Freundin Marianne Herzog in die Küche. Die beiden verstanden sich auf Anhieb, teilten den Wunsch, "Frauen aus der Studentenbewegung für eine gemeinsame Kinderbetreuung zu organisieren, um selber ein bisschen Zeit zu gewinnen".

Noch an diesem Abend verabredeten sie ein Treffen, zu dem dann im Januar 1968 etwa hundert Frauen, auch ein paar Kerle kamen. Sie gründeten gleich fünf Kinderläden. Von da an kamen Frauen, die Freiheit und Leben und Selbstbestimmung wollten, jeden Mittwoch im Republikanischen Club zusammen. Anfangs nannten sie sich umständlich "Aktionsrat zur Vorbereitung der Befreiung der Frauen". Je mehr sie wurden, desto kürzer der Name, bis nur noch "Aktionsrat" übrig blieb. So hat die Geschichte der Neuen Frauenbewegung in West-Berlin begonnen: "in einer Küche, aber weder beim Kochen noch beim Abwaschen".

Feminismus ist hier eine politische Haltung, nicht "an ein Geschlecht gebunden"

Man kann ein Dutzend TV-Dokus über "1968" anschauen und vier Kilo Veteranenliteratur verschlingen, ohne von diesem Küchenabend und dem Mut der jungen Frauen zu hören. Annett Gröschner erzählt in ihrer Chronik der Berliner Frauenbewegung von beidem, schildert Motive, Notlagen, Folgen. Sie tut dies knapp, anschaulich, mit vielen sprechenden Details und O-Tönen, ohne Rechthaberei im Nachhinein und doch mit Pointen. Muss man das wissen? Unbedingt. In der aktuellen Diskussion über Identitätspolitik und soziale Frage werden zugunsten des schlichten Gegensatzes von "Minderheitenpolitik" und "wahrem Linkssein" die tatsächlichen Erfahrungen der Emanzipationsbewegungen gern vergessen oder absichtlich verdrängt. Es ging von Anfang an zugleich und gleichermaßen um Rechte, um Sichtbarkeit, gegen Diskriminierung und Gewalt, um Kinderbetreuung, Schulen, Beziehungen unter Gleichberechtigten. Was soll man von Leuten halten, die ständig die "soziale Frage" im Munde führen, aber von Kitas, Lohngefälle, Abtreibungs- und Scheidungsrecht nicht reden wollen? Nur für Wohlhabende ist Kinderbetreuung ein ausschließlich privates Problem.

Annett Gröschner ist seit Jahren eine der besten Berliner Geschichtenerzählerinnen. Sie war eine Mitorganisatorin des Treffens in der Volksbühne, auf dem am 3. Dezember 1989 der Unabhängige Frauenverband gegründet wurde, ein wichtiger, oft übersehener Akteur der ostdeutschen Selbstbefreiung. Als sie ihren Platz am Zentralen Runden Tisch beanspruchten, meinten manche, dann könne ja "jeder Karnickelzüchterverein kommen". Aber die Unabhängigen Frauen ließen sich nicht abwimmeln, sie arbeiteten am Verfassungsentwurf für die DDR mit. Es sei, erinnert Gröschner, nicht einmal schwierig gewesen, darin ein "Benachteiligungsverbot wegen der sexuellen Orientierung" durchzusetzen. "Es wurde viel debattiert unter den Frauen im Herbst und Winter 1989/90", und der größte Teil der damals erhobenen, hin- und herdiskutierten Forderungen ist noch heute nicht erledigt: "Ja, der Fortschritt ist eine Schildkröte, die Hälfte des Jahres schläft sie unter dem Bett."

Diese kurze Geschichte der Frauenbewegung in der Hauptstadt hat immer auch die Gegenwart im Blick und dennoch klingt sie nicht bitter. Indem sie von der "preußischen Berlinerin", der West- wie der Ostberlinerin und schließlich der "Hauptstädter*in" erzählt, entfaltet Annett Gröschner ein Panorama der verschiedensten Positionen. Dabei spielt auch der Streit um den "wahren" Feminismus eine Rolle, aber Gröschner hält Distanz zu Orthodoxien. Feminismus gilt ihr als eine politische Haltung, "nicht an ein Geschlecht gebunden".

Daher kann sie, statt mit Lehrsätzen zu langweilen, von Alltagsproblemen und Erfahrungen berichten. Und immer kommt dabei die Stadt zu ihrem Recht, werden Atmosphäre und Verhältnisse treffend charakterisiert. Man erfährt viel Neues, kaum Bekanntes in diesem Buch, darunter eine plausible Hypothese zur Herkunft der Merkel-Raute. Vor allem aber verbindet Gröschner gekonnt die Gelassenheit der Historikerin mit dem Zorn der Zeitgenossin. Zum Abschluss zitiert sie Christiane Rösinger: "Feminismus ist nicht fun / er ist komplex und er kotzt die Leute an / er ist nicht cool und seine Themen sind alt / Ausbeutung, Sexismus, strukturelle Gewalt".

© SZ vom 09.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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