Theater:Achtung, echte Menschen!

Lesezeit: 7 Min.

Die ehrlich vorgetragene Geschichte gehört unbedingt zur Performance: Yael Ronens Stück "Point Of No Return" an den Münchner Kammerspielen. (Foto: David Baltzer/Kammerspiele)

Das Theater huldigt dem Authentischen, es lässt auf der Bühne kochen und essen. Gerade durch diese Art der Performance aber verrät es die Wahrheit - und sich selbst.

Gastbeitrag von Bernd Stegemann

Einst brachte der Schauspieler Curt Bois bei einer Probe mit einer Improvisation den Regisseur Fritz Kortner zum Lachen. Der wollte die Passage aber dennoch nicht übernehmen. Seine legendäre Begründung: Ja, ich habe gelacht, aber weit unter meinem Niveau.

Die Anekdote zeigt, dass jede ernsthafte Beschäftigung mit dem Theater bedeutet, sich mit seinen Darstellungsmitteln auseinanderzusetzen. Im Theater unserer Zeit ist ein Streit um die Frage entbrannt: Soll auf der Bühne performt werden oder soll durch Schauspielkunst eine zweite, fiktionale Wirklichkeit erscheinen? Sollen echte Menschen auftreten, die authentisch ihre Biografie verkörpern? Oder sollen professionelle Menschen, wie George Tabori einst die Schauspieler nannte, fremde Figuren erspielen?

Glaubt man den aktuellen Trends, so ist die Fragen entschieden: Die Schauspieler werden für ihre Leistungen im Film bewundert, auf der Bühne gehören sie ebenso wie das Drama zum alten Eisen. An ihre Stelle ist der Performer getreten, der seine eigene Existenz zum Thema macht und die mimetische Kunst des Schauspielens durch Performativität ersetzt.

Alles findet hier und jetzt statt. Zum Beweis wird auf der Bühne tatsächlich gekocht und gegessen

Performativität klingt kompliziert, meint aber nichts anderes als eine allgemeine menschliche Eigenschaft. Jede Tätigkeit, die die Realität verändert, indem sie eine besondere Präsenz erzeugt und dabei die Aufmerksamkeit auf sich lenken will, ist ein performativer Akt. Eine laute Stimme, ein langes Schweigen, eine besondere Bewegung, eine auffällige Kleidung können Mittel dafür sein.

Während die Zivilisation sich bemüht, im alltäglichen Miteinander möglichst reibungslos aneinander vorbei zu leben, ist in den Selbstdarstellungsmedien die performative Hervorbringung des Selbst zur beliebten Kulturtechnik geworden. Jedes gepostete Selfie performt die eigene Subjektivität und will dafür Anerkennung bekommen. Mein Ich ist ganz besonders und erschafft sich darum seine eigene Bühne, die zum Zentrum der Welt wird. Vergessen wird bei der Übertragung auf die Bühne, dass das performative Können eine notwendige Grundlage des Schauspielens ist. Es ist selbst noch keine Kunst.

Das Schauspielen nutzt die Mittel der Aufmerksamkeitssteigerung, macht sie aber nicht zum Selbstzweck. Es baut darauf die mimetische Kunst auf. Deren komplizierte Herausforderungen bestehen beispielsweise darin, eine abwesende Realität auf der Bühne erscheinen zu lassen, den Charakter eines Menschen durch seine Gesten zu zeigen oder eine Figur zum Sprechen zu bringen, deren Handeln unbegreiflich ist. Die Souveränität des Schauspielers liegt dabei in der Entscheidung, welche Mittel er verwendet. Seine Kunst ist es, Menschen so auftreten zu lassen, dass sie mehr über sich preisgeben, als sie selbst bereit wären. Eine der schwer zu erlernenden Fähigkeiten dabei ist, poetisch verdichtete Sprache hör- und verstehbar zu machen.

Die Behauptung, das performative Theater sei ein notwendiger Fortschritt in der Kunst, ist also keineswegs selbstverständlich und ihr Erfolg resultiert aus einem Missverständnis, das im paradoxen Begriff des Authentischen liegt. Auto enthes meinte im Griechischen "von eigener Hand", und damit war sowohl die Unterschrift unter einen Vertrag gemeint wie der Selbstmord. Heute ist daraus einer der unklarsten Begriffe geworden, der in Werbung, Politik und Kunst als Goldstandard für Glaubwürdigkeit gilt. Im Authentischen liegt die paradoxe Aufforderung "Sei ganz du selbst" und zugleich der Zwang, dass man auf jeden Fall so wirken soll, als wäre man gerade ganz man selbst.

Münchner Kammerspiele
:Was das Theater mit dem Terror macht

Die Regisseurin Yael Ronen hat sich in "Point of No Return" mit dem Münchner Amoklauf beschäftigt. Ein erstaunlich komischer und befreiender Abend.

Von Christine Dössel

Das Selbstbild, das eigene Erleben und die Wirkung auf andere sind aber oft sehr verschieden. Dessen ungeachtet geht der Performer von sich aus und vergrößert seine Individualität. Der Wahrheitsanspruch seines Auftretens gründet sich in der falschen Behauptung, dass er als Mensch über seine eigene Geschichte ebenso souverän verfügen könnte wie über seine Präsenz auf der Bühne. Die alltägliche Erfahrung zeigt hingegen, dass etwa zwischen der Art, glaubwürdig zu wirken, und der Zuverlässigkeit des Charakters große Unterschiede bestehen können. Zugleich ist sich wohl kein Mensch über seine Wirkung vollständig bewusst. So entsteht in der Behauptung einer performativen Authentizität eine Lüge hoch zwei. Weder die Selbstentfremdung des Ich, das in einer Bühnensituation öffentlich spricht, noch der Abgrund zwischen Schein und Wirklichkeit werden hier offengelegt.

Die performative Behauptung leugnet die soziale Wahrheit der Bühne, die darin besteht, dass hier alles nur Schein ist, dass aber in dieser Fiktion eine künstlerische Wahrheit erscheinen kann. Die performative Authentizität lügt, weil sie die Entfremdungen des Lebens und der Bühne leugnet, während die mimetische Lüge die Wahrheit sagen kann, weil sich in der sozialen Situation des Theaters alle darüber einig sind, dass hier gelogen wird.

Die Ursache für diese Verwirrung liegt in der Geschichte der Performance, die in den bildenden Künsten der sechziger Jahre entstanden ist. Die Selbstentblößungen des Performers führten zu einer gesteigerten Gegenwart, in der sich die Zuschauenden ihrer eigenen Rolle nicht mehr sicher sein konnten: Mussten sie eingreifen oder war alles nur "Kunst"? Nach dem Import ins Theater hat sich ihr Wesen verwandelt. Aus den Grenzgängen der Performance wurde die Performativität, die schon immer die Grundlage des Schauspielens war. Aus einer komplexen Kunst, wie etwa der von Marina Abramovic, wird eine schlichte Art, auf der Bühne Präsenz zu erzeugen.

Die so hervorgebrachte Subjektivität führt zu den oft beobachteten Ausdrucksmitteln: Das betroffene oder moderierende Sprechen, der direkte Kontakt mit den Zuschauern, die ehrlich vorgetragene Geschichte, die Betonung, dass alles hier und jetzt stattfindet und wahr ist. Zum Beweis wird dann tatsächlich gekocht und gegessen. Ein solches Theater beteuert unentwegt, dass hier echte Menschen mit echten Zuschauern einen echten Kontakt wollen. Mit Niklas Luhmann könnte man darauf entgegnen: Immer wenn echte Menschen auf der Bühne sprechen, ist Dilettantismus im Spiel.

Die Verteidiger des performativen Theaters würden hier zustimmen, denn nur der Dilettantismus gewährt ihrer Meinung nach die Authentizität. Das Problem ist aber, dass der Authentizitätseffekt weniger raffiniert und abendfüllend ist als gehofft. Was bei der Faszination für das Authentische vergessen wird, ist, dass die Aufmerksamkeit im Theater nicht vorrangig dem Theater selbst gelten sollte.

Heute scheint es, als würden viele Erneuerer des Theaters nicht ihre Gegenwart, sondern vor allem das Theater kritisieren

Das Theater hat seit der antiken Tragödie daran gearbeitet, die Verklärung der Gegenwart zur besten aller Welten zu kritisieren. Es hat sich nicht damit begnügt, die Präsenz der gemeinsamen Gegenwart zu feiern, sondern Geschichten aufgeführt, die zeigen, wie kompliziert die Konflikte des Lebens sind. Dabei hat es immer dem Wunsch widerstanden, die Welt unmittelbar auf die Bühne zu stellen. Das Theater wollte nicht Gladiatorenkämpfe zeigen oder sportliche Höchstleistungen.

Heute scheint es, als würden viele Erneuerer des Theaters nicht ihre Gegenwart, sondern vor allem das Theater kritisieren. Sie haben offensichtlich mit der Umwelt weniger Probleme als mit der mimetischen Kraft der Bühne. Unter dem Label der Repräsentationskritik vereinigen sich die Angriffe gegen die Irrealisierung der Realität. Sie begeben sich damit - ohne es zu wollen - in die lange Tradition der Theaterverbote, mit denen die Kirche oder totalitäre Regime die Schauspieler zensieren wollten. Der Kern aller Theaterverbote besteht in der zutreffenden Beobachtung, dass die Verwandlungskraft des Schauspielers Teufelszeug ist. Wer als jemand anderes erscheinen kann, stellt die Ordnung grundsätzlich in Frage. Nicht nur Identitäten, sondern ganze Gesellschaften können dadurch als unbeständige Behauptungen entlarvt werden.

Neu ist heute, dass der Angriff auf die Verwandlungskraft der Bühne von den Theaterleuten selbst kommt. Ihre Angst vor dem Als ob der Mimesis und den Zuspitzungen des Dramas lässt sie nach der Welt greifen, die sie ohne Repräsentation auf die Bühne bringen. Die Bühne soll von der vermittelnden Instanz des Theaters befreit werden, damit sie der Raum für die ganze Welt werden kann.

Die falsche Naivität dieses Wunsches ist kein Zufall, sondern steht in einer Reihe mit anderen gesellschaftlichen Kräften, die die Abschaffung der Vermittlung fordern. Der enorme Erfolg der populistischen Politiker beruht in einem wesentlichen Punkt auf ihrer Behauptung, dass der authentische Retter mit seinem Volk in unmittelbaren Kontakt tritt. Der Wille des Volkes soll ohne störende Vermittlung durch gewählte Repräsentanten Gehör finden.

Die Theaterleute, die die Vermittlung des Schauspiels und des Dramas durch die Unmittelbarkeit der authentischen Performativität ersetzen wollen, fordern einen ästhetischen Populismus, dessen Botschaft lautet: Der Umweg über den Schauspieler und das Drama ist Gedöns für die Eliten. Nur die Realität zählt. Nicht selten endet diese Flucht vor den Umwegen der Kunst in der Sackgasse der Sozialarbeit. Denn eine Absicht der performativen Wende, die die Grenze zwischen Bühne und Zuschauern auflösen will, besteht darin, alle in ein Spiel zu verwickeln. Mit dem Einzug des Performers wird die Bühne zu einem Spielplatz, auf dem die radikale Subjektivität gefeiert wird: Aus der Darstellung von Realität wird das Live-Erlebnis des Dabeiseins. Aus dramatischen Konflikten werden ambivalente Vexierbilder. Aus der Dialektik der Widersprüche wird der Relativismus von Paradoxien und Selbstreferenzen. Die Begründungen für diese Auflösungen lauten immer gleich: Die Gegenwart sei zu komplex für eine realistische Darstellung, die sozialen Widersprüche zu verworren für den dramatischen Konflikt.

Die künstlerische Antwort der Postdramatik auf diese Behauptungen besteht irritierenderweise darin, genau die gleichen Mittel der Ambivalenzen und Auflösung zu verwenden wie die komplexe Gegenwart. Nimmt man diese Kunstbemühungen ernst, so hat man es tatsächlich mit einer sehr ambitionierten Form von Sozialarbeit zu tun. Die Methoden des Social Engineerings, die etwa in Mitarbeiterschulungen zur Motivationssteigerung verwendet werden, finden so zu ihrem Ursprung zurück. Waren einst die Kreativitätstechniken der Künstler das Vorbild für die Arbeitswelt, so reimportiert nun vor allem das Theater die Sozialtechniken der Gruppenmotivation und Selbstinfragestellung. Alle sollen fit gemacht werden für das Chaos ihrer Zeit.

Dieses Theater wiederholt den Umbau einer Arbeitswelt, die immer mehr Flexibilität verlang

Die Performativität, die das Theater unserer Tage als Mode feiert, entpuppt sich so als die ästhetische Ausprägung eines Arbeitslebens, in dem nicht nur gefordert wird, seine Aufgaben zu erfüllen, sondern die Arbeit auch mit Leidenschaft getan werden muss. Das Paradox des Authentischen münzt sich in den alltäglichen Zwang um: Passion to perform, Leidenschaft zu "performen", womit die doppelte Bedeutung des englischen to perform von leisten und darstellen erfasst ist. Sei ganz du selbst, aber so, wie es die Arbeit verlangt.

Wollte man die Gegenwart als eine absolut der Verwertung ausgelieferte Gesellschaft kritisieren, so sollte man nicht die gleichen Techniken verwenden, die zu genau diesem Zustand geführt haben. Wenn Schauspieler durch Performer ersetzt werden, wiederholt das Theater den Umbau der Arbeitswelt, die den immer bereiten flexiblen Menschen verlangt.

Die performative Wende unterbietet die Theatergeschichte auf ziemlich ignorante Weise. Sie bedient sich bei der Kunstform der Performance, bemerkt dabei aber weder, dass diese auf der Bühne ihr Wesen verändert, noch bedenkt sie, dass die Schauspielkunst immer mit den Doppeldeutigkeiten der Realität gespielt hat. Durch einen ideologischen Begründungsdiskurs stilisiert sich das performative Theater zum Fortschritt in der Kunst. Dabei kann niemand sagen, ob es sich um denselben reaktionären Fortschritt handelt wie in der Realität oder eine Kritik daran sein soll.

Die Folgen für das Theater bestehen schon heute darin, dass die künstlerischen Mittel immer einfacher und undialektischer werden und jeder kritische Einspruch zurückgewiesen wird, indem man die große Vereinfachung als Herausforderung an die Zuschauenden deklariert. Mit Fritz Kortner könnte man im Theater heute sagen: Ja, wir fühlten uns provoziert, aber weit unter unserem Niveau.

Bernd Stegemann ist Dramaturg und Professor für Dramaturgie an der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" in Berlin. In wenigen Tagen erscheint sein Buch "Das Gespenst des Populismus. Ein Essay zur politischen Dramaturgie" (Verlag Theater der Zeit).

© SZ vom 03.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusChris Dercon im Porträt
:Der Missverstandene

Volksbühne vs. Chris Dercon: Eine Begegnung mit dem künftigen Theaterintendanten des Traditionshauses - und wahrscheinlich meistgehassten Mann Berlins.

Von Jörg Häntzschel

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: