Dokumentarfilm:Die verdrängte Schwester

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Hochzeit in Casablanca – Éric Caravacas Eltern. (Foto: missingfilms)

Familienforschung: Eric Caravaca spürt in "Carré 35" einem Geheimnis seiner Eltern nach.

Von Susan Vahabzadeh

Wie wird das sein, wenn die Kinder der Kinder von heute eines Tages versuchen, etwas über ihre Eltern herauszufinden? Werden sie dann noch jeden missratenen Tweet, jedes unvorsichtig gepostete Partyfoto auftreiben, oder wird der technologische Fortschritt so gründlich aufgeräumt haben, dass sogar jene Bilder verloren sein werden, die man gerne noch einmal betrachtet hätte? Es ist schwer, darüber Prognosen abzugeben. Früher hat kaum jemand sein Leben auf Schritt und Tritt dokumentiert. Als die Eltern des französischen Schauspielers Éric Caravaca in den Fünfzigerjahren in Casablanca heirateten, hielt eine Kamera fest, wie sie die Stufen vor der Kirche herabschritten. Für diese Zeit ist das auf jeden Fall ungewöhnlich.

Éric Caravaca macht sich in seinem Film "Carré 35" auf die Suche nach Spuren seiner Schwester - irgendwie weiß er, dass es dieses Mädchen gegeben hat, noch bevor er und sein Bruder geboren wurden. Aber viel mehr weiß er nicht. Die Angaben seiner Eltern auf Nachfrage sind spärlich und trotzdem widersprüchlich. Das Todesdatum steht fest, aber nicht der Tag der Geburt. Wie alt war Christine denn nun, als sie gestorben ist, vier Monate oder drei Jahre? Die Mutter erzählt widerwillig von dem Tag, als sie das Kind tot in seinem Bettchen fand, beschreibt, wie es dalag. Caravaca schaut in den Pässen seiner Eltern nach, und die Stempel besagen: Sie waren überhaupt nicht in Casablanca, als Christine gestorben ist. Er fragt seinen Bruder um Rat. Und der sagt: Weißt Du noch, dass Mutter zweimal ihren Vornamen geändert hat, während wir Kinder waren?

"Carré 35" ist eine Mischung aus Dokumentarfilm und Essay, persönlichen Erinnerungen und offizieller Geschichtsschreibung. Irgendwann mischen sich unter die Super-8-Bilder, die die Eltern am Strand zeigen, oder wie sie sich mit ihren Freunden amüsieren, kleine Stücke aus alten Wochenschauen, die ein ganz anderes Bild von Marokko zeigen, das von Aufruhr, Festnahmen und Gewalt beherrscht wird. Es gab in dieser Ära, als die Kolonialzeit endgültig vorbei war und Marokko um seine Unabhängigkeit von Frankreich und Spanien kämpfte, offensichtlich auch schon zwei Wahrheiten.

Eine ganze Weile möchte man die Sehnsucht dieser Frau, sich selbst neu erfinden zu dürfen, verteidigen. Caravaca dämmert bald, dass Christine Trisomie 21 hatte - und die Eltern sehr unterschiedlich mit dieser Wahrheit umgehen.

"Carré 35" rührt an unserem Umgang mit Vergangenheit und Verdrängung. Wie eine Gesellschaft sich ihre Tabus schafft und eine persönliche Tragödie zum Unaussprechlichen wird, läuft ineinander. Es ist ein melancholischer, bewegender Film geworden, der mehr Fragen stellt als er beantwortet. Aber in einem Punkt ist sich Caravaca ganz sicher: Frei ist man erst, wenn man mit der Vergangenheit im Reinen ist. Seine Mutter hat sich vielleicht neu erfunden - aber als fragiles Konstrukt, das sie mit emotionalen Mauern schützen muss.

Carré 35 , Frankreich 2017 - Regie: Éric Caravaca. Buch: Caravaca , Arnaud Cathrine. Kamera: Jerzy Palacz. Missingfilms, 67 Minuten.

© SZ vom 31.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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