"Documenta. Politik und Kunst" in Berlin:Kunstgeschichte

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Eine Ausstellung in Berlin zeigt die ersten Jahre der Documenta im politischen Kontext. Zentral sind die neu ans Licht gekommenen NS-Verstrickungen des Kunsthistorikers Werner Haftmann.

Von Catrin Lorch

Dass die Ausstellung "Documenta. Politik und Kunst" mit dem Skandal um den Kunsthistoriker Werner Haftmann eröffnete, hat ihr weitreichende Aufmerksamkeit verschafft. Ausgerechnet der theoretische Kopf hinter den ersten Ausgaben der Kasseler Weltkunstschau Documenta war während des Zweiten Weltkriegs am brutalen Kampf gegen die Partisanen in Oberitalien beteiligt. Dabei hatte seine offizielle Biografie doch suggeriert, er habe sich vor allem an der Bergung von Kunstschätzen in Kirchen und der Sicherung von ausgebombten Bibliotheken engagiert. Und auch wenn der Kölner Historiker Carlo Gentile, der seine Forschungen in einem Essay "Der Krieg des Dr. Haftmann" publizierte (SZ vom 7. Juni), nicht zum wissenschaftlichen oder kuratorischen Team des Deutschen Historischen Museums in Berlin gehört, konnte dessen Direktor Raphael Gross die Ergebnisse immerhin in sein Vorwort im Katalog aufnehmen.

"Wie braun ist die Documenta" lautet jetzt die inoffizielle Überschrift der Schau, eine Frage, die Julia Voss, Kuratorin der Ausstellung, einzufangen sucht, um den Fall Werner Haftmann ins Exemplarische zu ziehen: Aus dem engagierten Vermittler der von den Nationalsozialisten verfemten Moderne wird so ein Kunsthistoriker, der jüdische Künstler ausklammert und in seinem Standardwerk "Malerei im 20. Jahrhunderts" schreibt, "nicht ein einziger der modernen Maler war Jude". Beleg dafür ist der Matisse-Schüler Rudolf Levy, der in Florenz in direkter Nachbarschaft zu Werner Haftmann lebte und im Holocaust umkam. Die Kuratoren der ersten Documenta hatten ihn wohl erst auf der Künstlerliste und strichen seinen Namen dann durch. Was Raphael Gross zuspitzt zu der Feststellung, die Vernichtung der NS-Zeit werde in der Einladungspolitik der Documenta-Ausstellung fortgeführt.

Die Documenta wurde zur Blaupause für die Verdrängungen der Nachkriegszeit

Damit wird das von Arnold Bode gegründeten Kunstfest Documenta, dessen erste Ausgabe 1955 im Beiprogramm einer Bundesgartenschau in Kassel stattfand, zur Blaupause für die Verdrängungen der Nachkriegszeit. Werner Haftmann war aber auch insofern eine Idealbesetzung, weil er sein Publikum, das während der Zeit des Nationalsozialismus zwölf Jahre lang dem monumentalen NS-Kitsch und Begriffen wie "entartete Kunst" ausgesetzt war, im Schnellkurs innerhalb von einem Jahrzehnt von der verfemten Moderne bis hin zur "Weltsprache der Abstraktion" führte. Vor allem die Malerei von US-Amerikanern wie Jackson Pollock, Franz Kline oder Ellsworth Kelly hatte in Kassel einen gewaltigen Auftritt. Dass Arnold Bode und Werner Haftmann dabei nicht nur ideell, sondern auch logistisch auf Unterstützung der amerikanischen Kulturpolitik bauten, weist Kurator Lars Bang Larsen akribisch nach.

Politisch opportun wurde die von der Figuration befreite Malerei als Abgrenzung vom sozialen Realismus und der Staatskunst im kommunistischen Osten interpretiert. Womit die Documenta die kulturelle Westbindung der jungen Bundesrepublik akzentuierte und, dreißig Kilometer von der Zonengrenze entfernt, zum Brückenkopf gegen die Kultur der jungen DDR ausgebaut wurde (und jeden ostdeutschen Besucher mit zehn Mark Reisekostenzuschuss empfing). Erst als Willy Brandt die Annäherung propagiert, wird Documenta-Leiter Manfred Schneckenburger im Jahr 1977 wie zur Illustration auch ostdeutsche Künstler einladen.

Mit diesem Fokus ist die Ausstellung, deren Untertitel "Politik und Kunst" genau in dieser Reihenfolge gelesen werden muss, keine Aufarbeitung der Documenta-Geschichte und schon gar keine Kunst-Schau, sondern der Versuch, die Geschichte der Nachkriegszeit durch diese hoch geförderte und medial viel beachtete Ausstellungsreihe zu lesen. Dass die Kuratoren sich dafür nur die ersten zehn Ausgaben vornehmen, ist vom Standpunkt des Historikers sicher richtig. Sie beenden die Analyse mit der zehnten Ausgabe der Documenta, Catherine Davids "Retroperspektive", dem Versuch, nach dem Fall der Mauer gleichermaßen eine kritische Bilanz wie einen neuen Ansatz zu finden für die Weltkunstschau.

Die aus dem Kontext ihrer Documenta-Auftritte gerissenen Arbeiten sind weder historisches Zeugnis noch Kunsterlebnis

Während aus Archivmaterial, Konzepten, Briefwechseln, Interviews und Zeitzeugnissen ein reiches Bild entsteht, irritiert der Versuch, in den Ausstellungshallen im Untergeschoss des Geschichtsmuseums zwischen Stellwände, Vitrinen und Dokumentationen auch Kunst zu hängen. Schon weil man sich fragt, ob Bernhard Heisigs wuchtiges Ölgemälde "Festung Breslau" (1969) nun als Belegstück für die kulturelle Öffnung gehängt wurde - oder tatsächlich in einen Dialog mit den nur wenige Meter entfernt präsentierten polnischen Abstraktionen wie Adam Marczyńskis elegante, eher kleinformatige "Kompozycja (Komposition)" (1958) treten soll oder mit den zarten Skulpturen von Emy Roeder. Die aus dem Kontext ihrer Documenta-Auftritte gerissenen Arbeiten sind, schlecht beleuchtet und gedrängt präsentiert, weder historisches Zeugnis noch Kunsterlebnis. Bestenfalls sperren sie sich gegen die Vereinnahmung durch die Historiker. In den dunkleren Ecken gehen sie einfach unter.

Doch sind solche Ausstellungen überfällig: Es ist zu hoffen, dass unter den Besuchern viele sind, die auch zum regelmäßigen Publikum der Kasseler Weltkunstschau gehören. Und den Zeitstrahl weiter denken, vielleicht auch die vier letzten Ausgaben einer Analyse unterziehen: Warum war beispielsweise die elfte, von Okwui Enwezor geleitete Documenta nicht nur politisch weit gedacht, sondern künstlerisch so enorm einflussreich? Auch die mediale Diskreditierung der D14, die sich auf dem Höhepunkt der Schuldenkrise einen Ableger in Athen leistete, lässt sich erklären, wenn man sie nicht allein als Ereignis liest, das die Feuilletons bewegt, sondern als Ausdruck einer bundesdeutschen Befindlichkeit. Eine Verlagerung der Perspektive an den Rand der Europäischen Union, in den so apostrophierten "Süden", war nicht opportun.

Es ist an der Zeit, über solche unmittelbaren Erkenntnisse hinaus eine Skepsis gegenüber dem Kunstgeschehen zu entwickeln. Die Institution Museum genießt in Deutschland höchste Glaubwürdigkeit. Aber Sammlungen, Ausstellungsprogramme, kunsthistorische Forschungen werden "gemacht", sie sind abhängig von öffentlichen und privaten Geldgebern, beeinflusst von Berufungs- und Besetzungspolitik. Die vom Publikum als "freie Kunst" geschätzte Sphäre ist in Deutschland nicht unmittelbar von Zensur betroffen, doch liefert sie, abhängig von Sponsoren und öffentlicher Förderung, mal Biennalen, die den Fokus auf afrikanische Künstler richten, dann Mega-Schauen mit russischen Künstlern oder, abgestimmt auf die Eröffnung einer Bahnverbindung nach China, einen Ausstellungsreigen rund um den Kopfbahnhof in NRW. Der hervorragende Katalog der Ausstellung "Documenta. Politik und Kunst" kann da mehr zum Verständnis des zeitgenössischen Kunstgeschehens beitragen als jede Stilkunde.

Documenta. Politik und Kunst im Deutschen Historischen Museum, Berlin, bis 9. Januar 2022. Der Katalog kostet 36 Euro.

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