Der Ursprung der Schönheit:Schön genug, um wahr zu sein

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Josef Reichholfs große Studie über den "Ursprung der Schönheit" beschreibt die Suche des weiblichen Auges nach Abweichung. Das Prinzip der sexuellen Auslese begünstige Altruismus, Gerechtigkeit und Freiheit.

Horst Bredekamp

Die gutmeinenden Kritiken verbargen nur mühsam ihre Irritation, dahinter stand eine massive Wand der Ablehnung. Der zweite Teil der 1871 publizierten "Abstammung des Menschen" enthielt Charles Darwins Abhandlung zur "sexuellen Auslese", die seinen vielleicht größten Misserfolg darstellte. Darwin hatte vor dem Problem gestanden, dass er die in ihrer Variation und Formenvielfalt geradezu berstende Natur mit Hilfe der "natürlichen" Auslese allein nicht glaubte erklären zu können. Um diesen Zwiespalt zu schließen, schuf er jene Theorie der "sexuellen" Auslese, derzufolge das weibliche Auge als Agens der Evolution in Rechnung zu stellen sei.

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Bilder.

Diese sogenannte female choice folge keinesfalls allein jener Bindung, die durch Stärke und Überlebensgarantie entstehe; vielmehr funktioniere das weibliche Interesse wesentlich nach einem anderen Prinzip, das als Sehnsucht nach Variation zu erklären sei. Damit aber bestimmte der Naturforscher Darwin die Biologie in einer gewissen Weise als eine Art erotischer Form-, wenn nicht sogar Kunstgeschichte. Denn insofern er die Körper der Tiere als selbstproduzierte Bilder ansah, definierte er seine zweite Säule der Evolution als ein ungeheures Bildtheater, das sich aus dem Wechselspiel zwischen dem nach Variation suchenden Auge der Weibchen und der sich andienenden Mutationsbereitschaft der Männchen ergab.

Weggefährten wie Alfred R. Wallace reagierten auf Darwins Theorie mit deutlicher Ablehnung, weil für sie nicht zu akzeptieren war, dass es einen vom Anpassungsdruck an die Umwelt gelösten Variationstrieb geben sollte.

Dieses Unbehagen hat die Evolutionsbiologie niemals ganz verlassen, selbst wenn die Theorie der sexuellen Auslese immer wieder von Außenseitern aufgenommen und vom Mainstream der Evolutionsbiologie vorsichtig integriert und weiterentwickelt wurde. Es kamen kulturell bedingte Vorbehalte hinzu.

Im Gegensatz zu der 1859 erschienenen Abhandlung "The Origin of species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life", in der Darwin mit seiner Lehre von der natürlichen Auslese einen Nerv der zeitgenössischen Entfesselung der kapitalistischen Lebens- und Überlebenswelt getroffen hatte, forderte sein Konzept der sexuellen Auslese ungewollt den Viktorianismus in seinem neurotischen Kern der Triebbeherrschung heraus. Hieraus resultierte eine Abwehr, die aus psychologisch uneingestandenen Quellen stammte und daher zunächst kaum zu überwinden war.

Der groß angelegte Versuch des Münchener Evolutionsbiologen Josef H. Reichholf sieht von diesen Querelen der Wissenschaftsgeschichte ab, weil ihm Darwins Grundidee als selbstevident gesichert erscheint. Er fragt weniger nach deren Berechtigung als vielmehr nach der Lösung von sich hieraus ergebenden Problemen. Sein Buch führt eine beeindruckende Fülle von Erkenntnissen vor, die der Autor mit ergreifender sprachlicher Kraft als fundamentale Fragen der Evolutionsbiologie formuliert.

Die Theorie der sexuellen Auslese ist auf die Kategorie der Schönheit angewiesen. Mit George Levin und Winfried Menninghaus haben Literaturwissenschaftler die bislang umfassendsten Darstellungen dieses Begriffs im Werk von Charles Darwin vorgelegt. Reichholf würdigt diesen Zugang, verspricht aber, Darwins Problem direkt in der Natur selbst aufzuspüren.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, wie die Schönheit des Pfaus neu bewertet wird.

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Der Autor ist sich darüber im Klaren, dass auch die Suche nach der "Sache selbst" das Produkt einer theoretischen Entscheidung ist, und durchzieht daher seine Beispielreihen immer wieder mit Reflexionen über die Berechtigung des Vorgehens und der sich hieraus ergebenden Grundfragen.

Kein Handicap, sondern nützliche Schönheit: Ein Pfau bittet zur Hochzeit. (Foto: dpa)

Das Buch zeigt sich in jenen Passagen auf der Höhe seiner Ansprüche, in denen der Autor aus der Diskussion der gewonnenen Erkenntnisse zur eigenen Beobachtung des Balzverhaltens eines Birkhahns oder auch der Konsistenz der Vogelfeder springt. Hier gewinnt sein Text eine Qualität, die an die funkelndsten Passagen Darwins heranreicht. Am Ende seiner "Origin of Species", der Beschreibung eines unberührten Landfleckens, hat Darwin die Kategorie des Schönen in einer Beseeltheit eingeführt, die ihm den Status eines begnadeten Schriftstellers eingebracht hat, und auch in manchen Kapiteln der "Sexual selection" dringt die bewundernde Begeisterung für die Geschöpfe der Natur als Kunstwerke durch.

Darwins Paradebeispielen des Pfaues und des Argusfasans widmet sich zunächst auch Reichholf im Rahmen seiner umfangreichen Erörterung der Vogelwelt. Das immer wieder anzutreffende Nicht-Erwartbare führt ihn zur Frage, ob in der Vielfalt eine Ordnung zu erkennen sei. Eingängige Antworten sind demzufolge schwierig, weil der Mensch allein schon die Farben anders wahrnimmt als die betreffenden Tiere. Zudem erschöpft sich die Rolle der Abundanz, der Vielfalt, des Überflusses, für die Entwicklung der Arten nicht nur in Formen und Farben, sondern auch im Variantenreichtum und der Individualität der Stimmen und Gesänge. Auch sie sind jenseits der Sphäre purer Notwendigkeit anzusiedeln.

Als zentrales Beispiel führt der Autor den Hirsch und das Zusammenspiel von einer eigentümlichen Geweihform und seiner betörenden Akustik an. Für die Hirschkühe sind nicht etwa, wie es zu erwarten gewesen wäre, die aggressivsten Artgenossen attraktiv. Sogenannte Mörderhirsche, die den Kontrahenten töten, werden eher verschmäht, wohingegen die Träger von Geweihen, die wie ganze Baumkronen anmuten, und dazu tief röhrende Stimmen besitzen, weitaus höhere Chance haben, von den Hirschkühen angenommen zu werden. Die Darlegung dieses den Hirschen eigenen Balzverhaltens gehört zu jenen Teilen des Buches, in denen der Autor mit Inbrunst die über unzählige Generationen sich vollziehende Prachtentfaltung verfolgt.

Biologen dürften am stärksten beeindruckt sein von Reichholfs Zurückweisung der sogenannten Handicap-Theorie, derzufolge die außergewöhnlichsten Prachtgewänder wie etwa die Pfauenfedern als Ausweis dienten, dass sich die Träger derartig luxuriöse Schwächungen im Überlebenskampf aufgrund ihrer Kraft und Gesundheit leisten konnten. Reichholf zeigt an einer Reihe von Fällen, dass die Schönheit durchaus Gesundheit signalisieren kann, die dem Weibchen als Ehrlichkeitszeichen dargeboten wird. Die Schönheit wird hier mit einem Ausdruck der Sicherheit gepaart, die anzeigt, dass der Partner kräftige Nachkommen zeugen und für den Nachwuchs sorgen könne.

Dieser maßvollen Bestätigung aber steht eine in zwei Extreme gehende Widerlegung der Handicap-Theorie gegenüber. Zunächst deutet Reichholf das, was als Handicap erscheint, als durchaus funktional, und hierin widerspricht er auch Darwin. So kann ihm zufolge gerade das massive Gefieder des Pfaues als ein Schutz wirken, weil es bei einem Angriff als Puffer fungiert und zudem blitzschnell durch Schreckmauser abgeworfen werden kann. Mit einer theatralisch inszenierten Luxusschwäche hat der Pfauenschwanz folglich nichts zu tun.

Lesen Sie weiter auf Seite 3, wie der Autor seine Theorie auf den Menschen bezieht.

Reichholfs entscheidende Absage an die Lehre vom Handicap aber setzt mit der Überzeugung, dass die Formschönheit in einer Art Selbstlauf der Ausschüttung überschüssiger Lebensenergien entstehe, am diametral entgegengesetzten Punkt an. Als Zebrafinken in einem Versuch mit bunten Ringen an den Beinen ausgestattet wurden, kam es zu einer signifikanten Bevorzugung dieser Artgenossen, womit gezeigt werden konnte, dass die Abweichung über alle anderen Kriterien der Anziehungskraft gesiegt hatte. Hieraus wie aus anderen Beobachtungen zieht der Autor den Schluss, dass es nicht notwendigerweise äußere Bedingungen sind, die zur abweichenden Paarung und damit zum evolutionären Schub führen, sondern vielmehr die Möglichkeitsformen einer internen Entwicklung.

Damit aber ist für Reichholf die Evolution als Wechselspiel von Außenwirkung und innerer Reaktion nur unzureichend beschrieben. In der Anpassung wirke vielmehr ein Kaleidoskop an Möglichkeiten, das alle Mechanik der Notwendigkeiten relativiere. Im Kern ist diese Neuformulierung der sexuellen Auslese eine Reflexion über die Freiheitsgrade der Evolution. Je komplexer die Organismen werden, umso stärker lösen sie sich von den äußeren Lebensbedingungen ab, um die Attraktion der Schönheit ihr anarchisches Spiel treiben zu lassen.

Mit diesem Schluss widmet sich der Autor gemeinsam mit Miki Sakamoto einer Bestimmung auch des menschlichen Verhaltens. Auch hier ist die Definition der Schönheit berührt. Sie lässt sich Reichholf zufolge keinesfalls auf eine messbare Symmetrie und den Eindruck von Wohlbefinden reduzieren; vielmehr muss die Spannung einer Abweichung vom erwarteten Durchschnittsmuster hinzukommen.

Die überlagerten Idealbilder des als schön erachteten Menschen wirken angenehm, aber auch nichtssagend und wenig attraktiv, weil ihrem Ebenmaß der Stachel der Abweichung fehlt. Bereits für Darwin bot dieser die einzige Möglichkeit, Schönheit zu definieren. Er hat sie als Variabilität und Abweichung bestimmt: variety. In dieser Definition können auch hässlich wirkende Formelemente die Kategorie der beauty erreichen, sowie sie als Abweichung erkennbar sind. Erst dies erlaubt es, die Evolution als Suche des weiblichen Auges nach der Abweichung zu begreifen.

In diesem Zusammenhang ist bedauerlich, dass der Autor eine Reihe profunder kunst- und kulturgeschichtlicher Erörterungen dieses Problems nicht mehr hat aufnehmen können: "Endless forms" (Cambridge und New Haven 2009), "Darwin. Kunst und die Suche nach den Ursprüngen" (Frankfurt am Main 2009) sowie "Was ist schön?" (Dresden 2010). Im Katalog der Dresdner Ausstellung des Hygiene-Museums hat Menninghaus Darwins Faible für die Frage der Ornamentierung aus der britischen Vorliebe für das Ornament und dessen kunsttheoretischer Fassung entwickelt. Wenn Mario Praz, so könnte gefolgert werden, die englische Schauerromantik als einen solchen Revenant des verdrängten Bilderschatzes erklärt hat, so wirkt Darwins Konzept der sexuellen Auslese wie eine Verlagerung dieses Impulses in die Natur.

Darwins Konzept der sexuellen Selektion kann vor diesem Hintergrund auch als natürliche Spielart der Wiederkehr der verdrängten katholischen Bilderwelt begriffen werden. In diesen Bezügen deuten sich die begrifflichen Rahmenstellungen an, unter denen Darwin seine zweite Grundidee entwickeln konnte. Dies relativiert sie nicht, sondern es definiert die Möglichkeitsform seines eigenen kulturellen Ambientes.

Begrifflich hätte es daher gutgetan, wenn der Verfasser die später im Sozialdarwinismus so verheerende Formel vom "survival of the fittest" nicht Darwin, sondern vielmehr dem Urheber Charles Spencer zugeschrieben hätte. Er hätte hier mit einem Vorurteil aufräumen können, zumal Darwin selbst, als er das Prinzip der sexuellen Auslese ausführte, den Stoßseufzer tat: "Too much (...) survival of the fittest".

Angesichts der Material- und Aspektfülle des Buches dürfte es nicht ausbleiben, dass Fachleute ihm Schwächen im Detail und Auslassungen vorwerfen werden; so ist schwer erklärlich, warum das 2006 erschienene, zweibändige Sammelwerk "Bird Coloration" fehlt. Aber Monita dieser Art reichen nicht bis zur Substanz des Buches.

Der Leser spürt, dass es in Zeiten der molekularbiologischen Großstudien an eine Forschung erinnern möchte, welche die lebendigen Wesen in ihrer natürlichen oder auch künstlich geformten Umwelt wahrzunehmen und durchaus auch zu bewundern versteht. Und darin ist es eine Art Liebeserklärung an eine Natur, die nicht allein nützlich, sondern auch verschwenderisch ist, die nicht nur den Erwartungen entspricht, sondern übertreibt, und die das Theatralische für ebenso wichtig hält wie die maschinell wirkende Mechanik der natürlichen Auslese.

Im Kern ist es ein Buch über die Freiheit. Wohl selten zuvor ist die Evolution in vergleichbarer Weise nicht als Reich der harten Notwendigkeit, sondern der formabundanten Möglichkeiten beschrieben worden.

Der Autor zieht seine Schlüsse aus der unmittelbaren Anschauung der Natur, um doch zu Ergebnissen zu kommen, die in ihren Folgerungen erkennbar einen kritischen Zeitbezug besitzen. Sein Buch verteidigt das gegenwärtig so prekäre Gut des Altruismus in der Frage, warum die Hirschgeweihe sich auf eine Weise entwickelt haben, dass sie den Gegner nicht zu tief verletzen. Es erkennt zudem eine Art ausgleichender Gerechtigkeit darin, dass Männchen zwar die bessere Überlebenschance haben, die Weibchen aus diesem Grund aber das Privileg der Auswahl besitzen.

Schließlich definiert er die Kategorie der Freiheit als das Produkt einer Suche nach Schönheit, die in der Natur selbst als evolutionärer Prozess abläuft.

Das Prinzip der sexuellen Auslese begünstigt Reichholf zufolge den Altruismus, die Gerechtigkeit und die Freiheit. Darwin hat die Natur bisweilen als das große "Schlachthaus" bezeichnet, aber seine Theorie der sexuellen Auslese bot das Bild einer produktiven Verschwendung. Wer glaubt, dass Darwins zweite Theorie zu schön ist, um wahr sein zu können, wird es nach Lektüre dieses Buches schwerer haben.

JOSEF H. REICHHOLF: Der Ursprung der Schönheit. Darwins größtes Dilemma. Verlag C.H.Beck, München 2011. 302 Seiten, 19,95 Euro.

Der Rezensent ist Kunsthistoriker an der Berliner Humboldt-Universität und Autor des Buches "Darwins Korallen" (Wagenbach Verlag, 2005).

© SZ vom 02.05.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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