Debatte um das "Weltkulturerbe":Warum nicht gleich die ganze Welt?

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812 Orte gehören anerkannt zum Weltkulturerbe. Warum so viele? Warum nur so wenige? Ist es ein Diktat der Unesco - oder schiere Willkür, die "unersetzlichen Verluste für die gesamte Menschheit" auszumachen?

Johan Schloemann

Es ist mal wieder so weit: Wie in jedem Jahr zittern ganze Regionen um ihren überzeitlichen und überörtlichen Status, den ihnen die mächtigste Kanonisierungsinstanz der Welt zubilligen möge.

Die Zeche Zollverein, Schacht XII gehört zum Weltkultuerbe, aber nicht der Dom vomn Worms. Warum? (Foto: Foto: dpa)

Werden sie auf die heilige Liste des "Welterbes" der Vereinten Nationen gesetzt oder auf ihr verbleiben? Ist das Dresdner Elbtal wegen einer Brücke "gefährdet"? Ist es der Kölner Dom hingegen nicht mehr, weil zu der Beton-Domplatte und den überwiegend grässlichen Nachkriegsbauten, von denen die Kirche ohnehin umstellt ist, eine nun doch nicht ganz so markante Hochhausbebauung hinzukommt? Wird eine weitere Altstadt auserkoren, welche die denkmalpflegerische Verpflichtung, die mit dem Label "Weltkulturerbe" einhergeht, für den gleichzeitigen touristischen Prestigegewinn leichten Herzens auf sich nimmt? Um welche Angebote werden jene japanischen Reisebüros, die Europa-Touren anhand der Welterbe-Liste organisieren, ihre Kataloge diesmal erweitern müssen?

Wer an Ort und Stelle steht, wie es für die Verwalter von Kulturstätten nur angemessen ist, wer also auf die je eigene alte Kirche, Häuserzeile oder Landschaft blickt, der tut gut daran, sich für eine internationale Adelung des Ortes zu interessieren; er wird mit Recht auf die Zuerkennung von "außergewöhnlichem universellen Wert", wie ihn die Unesco-Konvention von 1972 vorsieht, stolz sein und daraus weitere Energien und Ansprüche für die Erhaltung des Ausgezeichneten gewinnen.

Am einzelnen Beispiel, am einzelnen hervorgehobenen Schauplatz der Geschichte wird somit jeder Spott über die Unesco schwach. Denn man wird nicht bestreiten, dass die schützende Aufmerksamkeit der Weltgemeinschaft - 180 Staaten haben die Konvention inzwischen unterzeichnet - für nicht wenige wirklich bedrohte Kulturdenkmäler, zumal in ärmeren und instabileren Gegenden, von Nutzen ist. Und niemand wird etwas dagegen haben, wenn der Unesco-Titel geholfen hat, eine Fabrik direkt neben dem Heiligtum von Delphi oder einen Autobahnzubringer neben den Pyramiden von Gizeh zu verhindern.

Anders sieht es aus, wenn man sich von der Wartburg (Welterbe seit 1999) oder vom buddhistischen Kloster Paharpur in Bangladesch (Welterbe seit 1985) in die Lüfte erhebt und den ganzen Globus von oben beschaut, wenn man sich also herauszoomt wie in dem beliebten Internet-Luftbildprogramm Google Earth. Genau dies muss ja die Perspektive der Welterbe-Kommission sein, die gerade in Vilnius tagt. Und genau aus dieser Sicht, die bei den lokalen Bemühungen nicht vorherrschend ist, gerät der weltweite Denkmals-Kanon von Jahr zu Jahr zu einer größeren Absurdität.

Ohne die Erweiterungen dieses Jahres besteht das proklamierte Welterbe aus 812 Orten. 628 sind Kultur-, 160 sind Naturdenkmäler, und 24 sind beides (die Konvention spricht von "gemeinsamen Werken von Natur und Mensch"). Wenn jemand auf eine Reise ginge, um in jeder Woche jeweils einen Ort des Welterbes zu besuchen, dann wäre er 14,5 Jahre ohne Pause unterwegs. Es kann also längst nicht mehr darum gehen, wie bei der alteuropäischen Grand Tour jene Stätten zu verzeichnen, die "man" - der Kulturkosmopolit - gesehen haben muss.

Vielmehr handelt es sich um einen Kanon, über den man sich großteils nur lesend, fernsehend oder im Internet informieren kann, dessen "Untergang" aber zugleich, wie die Unesco sagt, "ein unersetzlicher Verlust für die gesamte Menschheit wäre". Die Hervorhebung belohnt mithin ausdrücklich nicht den höheren Wert eines Monuments für die umgebende Kulturlandschaft, für die örtliche Geschichtsidentität oder für die Menschen, die es häufiger sehen können. Nein, der Anspruch ist, dass die Sarkophage der dänischen Könige in der Kathedrale von Roskilde den Menschen in Uganda gleichermaßen am Herzen liegen wie die Gräber der Buganda-Häuptlinge in Kasubi den Dänen - letzteres übrigens eine Stätte, deren "Hauptbedeutung" nach der Begründung der Unesco in "ihren immateriellen Werten von Glauben, Spiritualität, Kontinuität und Identität" liegt.

Man könnte dies als harmlosen überschießenden Idealismus verbuchen, käme er nicht von der Instanz, die die ganze Welt zu verdenkmalen sich anschickt und der die nationalen Mitglieder - die Unterzeichnerländer, die die Vorschläge für die Liste machen - mit höchster Ehrfurcht entgegentreten. Und deren Liste zugleich notwendigerweise die höchste Willkür aufweist. Inzwischen hat die Unesco gemerkt, dass die Inflation der Welterbe-Stätten - Industriedenkmäler, Weinbaugebiete, alles ist dabei - ihren Status untergraben könnte, und sich mit der Bestimmung gezügelt, nur eine "einzigartige" Stätte pro Land im Jahr auszuzeichnen. Das Problem indes: Die Beschränkung ist im Rahmen des Unesco-Denkens gleich wenig zu rechtfertigen wie die endlose Ausweitung. Denn wie wäre das Einzigartige, das ja jeweils immer schon vorhanden ist, quotierbar? Wie verträgt sich ein grenzenloser Kulturrelativismus, mit dem die Unesco zunehmend dem Eurozentrismus auszuweichen versucht, mit der Kanonisierung des für alle Menschen Singulären?

So hat das Verfahren zu grotesken Widersprüchen geführt. Schon innerhalb eines Landes sind sie leicht vorzuführen: Warum sind die Dome zu Speyer, Aachen, Hildesheim und Köln Weltkulturerbe, aber nicht die zu Worms, Mainz und Magdeburg oder die Münster von Ulm oder Freiburg? Warum die Berliner Museumsinsel, aber nicht der Münchner Königsplatz oder Schloss und Park Wilhelmshöhe in Kassel? Warum die Zeche Zollverein in Essen, aber nicht die Franckeschen Stiftungen in Halle?

In Großbritannien sind die Kathedralen von Durham, Westminster und Canterbury auf der Liste, nicht jedoch die von Winchester und Salisbury oder die King's College Chapel in Cambridge. In der Toskana sind die Altstädte von Florenz, Siena, Pisa und San Gimignano privilegiert, nicht aber die von Lucca. Und was gibt in Sizilien den Barockstädten im Südosten der Insel sowie Syrakus den Vorzug vor Catania oder dem Theater von Taormina?

Dieses Spiel wird noch lustiger, wenn man nicht nur in einem Land vergleicht, sondern, wie es der Globalität der Weltkulturpolitik gemäß ist, zwischen den Ländern der von oben beschauten Erde. Warum dürfen die Lehmbauten und Friedhöfe von Timbuktu in Mali aus dem 13. bis 15. Jahrhundert dazugehören, aber nicht der Dorotheenstädtische Friedhof in Berlin, auf dem Hegel, Fichte und Brecht begraben liegen? Warum die Barockkirchen in Manila auf den Philippinen, aber nicht die Theatinerkirche in München? Warum das Kloster von Sankt Gallen, aber nicht der normannische Palazzo Reale in Palermo?

Man mag einwenden, dass die Unterzeichnerländer der Welterbe-Konvention ihre Vorschläge ja selber einreichen. Aber das ändert nichts an dem Resultat, das sie als Weltgemeinschaft gemeinsam vertreten. Es ist sonderbar: Während die eigentliche Weltinnenpolitik der UN in Trümmern liegt, während die in Wahrheit schlimmsten Bedrohungen der Kulturstätten weltweit Krieg, Umweltzerstörungen und Überbevölkerung sind, betreibt die kulturelle Weltgemeinschaft auf einem Nebenschauplatz ihre inkonsequente Historisierung der Welt - und alle lokalen Kulturschaffenden müssen mitmachen.

Nunmehr wird übrigens auch das "orale und immaterielle Kulturerbe der Menschheit" unter Schutz gestellt. Vedisches Singen, sizilianisches Puppentheater und madegassisches Holzschnitzen sind schon dabei. Alemannische Fastnacht, niederrheinisches Witzeerzählen und die Holzschnitzer im Erzgebirge warten noch sehnsüchtig auf ihre Verewigung.

© SZ v. 13.07.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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