Das Buch trägt eine Widmung, die den Untertitel der deutschen Ausgabe rechtfertigt, der "Eine Biographie" des Mittelmeers verheißt: "a la memoria de mis antecesores" heißt es in der Sprache der 1492 von der Iberischen Halbinsel vertriebenen und im spanisch-portugiesischen Machtbereich auch weiterhin verfolgten Sepharden, die bis dahin Seite an Seite mit den Muslimen von al-Andalus gelebt hatten. Der Name Abulafia ist ein im gesamten Mittelmeerraum und darüber hinaus verbreiteter sephardischer Name mit vielen Varianten und mit prominenten Vertretern, von denen der Autor einige auch am Rande seiner Geschichtserzählung auftreten lässt. Darunter waren auch Marranen, zwangskonvertierte Juden, was diese aber ebenso wenig wie die Morisken - konvertierte Muslime - vor Verfolgungen schützte, weil die allerkatholischsten Könige und ihre Inquisition alle Konvertiten grundsätzlich im Verdacht hatten, heimlich ihrer alten Religion nachzugehen.
Abulafias Geschichtsschreibung ist auch als eine spannende kollektive Biographie exemplarischer Mittelmeerschicksale zu lesen, von Menschen, die aus den verschiedensten Motiven und Antrieben heraus und über Generationen hinweg unterwegs waren und sich in einer der vielen Hafenstädte niederließen: Wo man sich auch nur provisorisch einnisten konnte und Toleranz erfuhr, wo Angehörige unterschiedlicher Religionen und Ethnien sich vermischten, wo man sich auch über ferne Meeresufer hinweg kulturell und sprachlich - in der "Lingua franca" einer an allen Mittelmeerküsten gebräuchlichen Mischsprache aus romanischen, arabischen und hebräischen Elementen - leichter und besser als mit den Bewohnern des unmittelbaren Hinterlands verständigen konnte.
"Die Wandernde" gründete Karthago
Die Erzählung gerade solcher Zusammenhänge macht das Erfrischende dieses Buchs aus. Der Leser muss es nicht unbedingt mit den Anfangskapiteln beginnen, er mag seiner Neugierde folgen oder bei Glanzstücken in die Lektüre eintreten: Das Kapitel "Verzweiflung in der Diaspora" behandelt die nicht immer und auch nicht allerorts nur tragischen Berührungen der drei abrahamitischen Religionen; von erneut brennender Aktualität ist ein Kapitel, das einen "Blick durch die russische Brille" auf die Meere und Seewege um 1800 wirft. Das Juwel des Buchs aber ist das Kapitel unter der Überschrift "Eine Geschichte von viereinhalb Städten" über die in den alten Hafenstädten Smyrna, Alexandria, Thessaloniki und Jaffa lange Zeit exemplarisch vorgelebte "convivenza" der unterschiedlichen Ethnien, Kulturen und Religionen - bis zu ihrem Zusammenbruch unter dem nationalistischen Wahn, den ethnischen "Säuberungen" und rassistischen Pogromen des 20. Jahrhunderts.
Als Brückenköpfe und Drehscheiben eines unaufhörlichen Transports und Austauschs von Menschen, Dingen und Ideen waren diese und andere Städte die Heimat auch jenes genuinen Mittelmeergewächses, das Albert Camus den "indigenen Fremden" nannte: Dessen vergangenes Lebensgefühl, wie es in Abulafias Buch seine historische Darstellung findet, ist auch mit Kernsätzen eines der schönsten Mittelmeerromane des vorigen Jahrhunderts - "Das Hundeleben der Juanita Narboni" aus der Feder des in Tanger geborenen Ángel Vázquez - auf den Begriff zu bringen: "Gott sei Dank", sagt da die auf einen italienischen Namen getaufte uneheliche Tochter einer andalusischen Mutter mit auf Gibraltar ausgestelltem britischen Pass, "Gott sei Dank sind wir in einer Stadt geboren, in der wir weder ganz Christen noch ganz Juden sind und auch nicht ganz Araber. Wir sind das, was der Wind will. Eine Mischung."
Und Juanita Narboni oder Beatrice Mendes de Luna - eine im Jahr 1510 aus Portugal vertriebene Marranin, deren von Abulafia geschilderte Odyssee von Westeuropa über Italien und den Balkan bis an den Hof von Konstantinopel führt, von wo aus sie Hilfsmaßnahmen für in Europa verfolgte Juden organisiert - hätte auch Elissa, alias Dido, heißen können, nach der sagenhaften Gründerin Karthagos, die nach einer von Vergil abweichenden Überlieferung ein Flüchtling aus der östlichen Ägäis war: Auf der Flucht vor ihrem blutrünstigen Bruder, dem Mörder ihres Gatten, zog sie mit ihren Begleiterinnen nach einer Station auf Zypern weiter nach Westen.
Die achtzigköpfige - wie es heute heißen würde - "illegale Einwanderergruppe" landete an der libyschen Küste und mischte sich dort mit den Einheimischen, deren König der Elissa den Namen "Dido" gab. Und Dido, so lesen wir bei Abulafia, bedeutet "die Wandernde", unter welchem Namen sie auf dem Hügel von Byrsa, nahe dem heutigen Tunis, die Stadt Karthago gründete - der Sage nach auf dem Umriss einer auf dem Boden ausgebreiteten Tierhaut. Das war das Material, auf dem man späterhin auch die nach dem italienischen Wort für "Häfen" benannten Portolankarten des Mittelmeerraums entwarf.
David Abulafia: Das Mittelmeer. Eine Biographie. Aus dem Englischen von Michael Bischoff, S. Fischer Verlag Frankfurt am Main 2013, 960 Seiten, 34 Euro.