Daniel Wissers Roman "Wir bleiben noch":Eine einzige Affäre

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Aus dem Stand auf die Bestsellerliste: der österreichische Autor Daniel Wisser. (Foto: Anke Waelischmiller/SVEN SIMON/imago)

Eine Beziehungsgeschichte in Zeiten der abnehmenden Sozialdemokratie: Daniel Wissers großer Österreich-Roman "Wir bleiben noch".

Von Alexandra Föderl-Schmid

Die Familienfeiern, bei denen sich immer die gleichen Verwandten daneben benehmen; die Beziehungen, in denen Kleinigkeiten zum großen Störfaktor werden; das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, in denen sich die Fürsorgepflichten plötzlich umkehren; und viele Sätze, die wirklich jeder kennt oder schon so formuliert hat: Daniel Wisser verdichtet solche Szenen aus dem Alltag zu Literatur. Sein Roman "Wir bleiben noch" ist ein Buch für Jedermann oder Jederfrau, aber es ist kein Allerweltsbuch.

Die Auseinandersetzungen in diesem Roman sind Generationenkonflikte, das Ringen um den vermeintlich richtigen Weg. Jeder, ob er nun der Generation X, jener der Babyboomer oder der Silveragers angehört, erkennt und findet sich wieder in diesem großen Familienroman. Der Bogen spannt sich über vier Generationen, die Erzählung konzentriert sich jedoch auf Victor und Karoline, beide Mitte 40: Sie Ärztin, er Lebemann. Sie treffen einander wieder nach fast dreißig Jahren beim Verwandtentreffen aus Anlass des 99. Geburtstags der "Urli", der gemeinsamen Großmutter.

So weit, so normal. Dann wird es "krank", "pervers", "abartig": Mit diesen Worten beschreiben die Verwandten das, worauf sich Victor und Karoline einlassen. Eine Beziehung, die wie ein großer Wirbelwind ihr Leben durcheinanderbringt und die dann doch relativ rasch im Alltagstrott erstickt. Für die gesamte Familie ist es ein Skandal, dass Cousin und Cousine miteinander leben und schließlich sogar heiraten. Und das noch dazu auf dem Land, im Haus der "Urli", auf das auch ihre Mütter Anspruch erheben. Aber es ist nicht die einzige Affäre in dieser Familie, wie sich später herausstellen wird.

Den Hintergrund der Beziehung bildet der Aufstieg des Rechtspopulismus

Zwei gegen den Rest der Welt - das ist ein auch vor Gericht wegen Erbstreitereien ausgetragener Kampf, der zusammenschmiedet, aber auch zu emotionalen Abnutzungserscheinungen führt. So wie Daniel Glattauer 2006 mit seinem Weltbestseller "Gut gegen Nordwind" E-Mails als damals neue Kommunikationsform zu einem ungewöhnlichen Liebes- und Briefroman verarbeitete, flicht Wisser jetzt Whatsapp und Emojis als Beschreibung ihres Beziehungsstatus ein. Ein Medium, das in Österreich zur Zeit durch die bekannt gewordenen Chatprotokolle der Regierungsspitzen für Aufsehen sorgt. Es ist aber auch das Porträt einer Generation, der der 1971 geborene Autor selbst angehört.

Famos webt Wisser die historische und aktuelle Gesellschaftspolitik in die Erzählung ein, berichtet vom Niedergang der Sozialdemokratie und vom Aufstieg der Rechtspopulisten in Österreich. Auch die Rolle der Boulevardpresse, die von der Regierung mit Steuerzahlergeld großzügig unterstützt wird, wird ausführlich beleuchtet. Wer Erklärungen für aktuelle politische Entwicklungen sucht, wird in diesem Roman fündig - das ist literarische Zeitgeschichte.

Daniel Wisser: Wir bleiben noch. Roman. Luchterhand Literaturverlag, München, 2021. 480 Seiten, 22 Euro. (Foto: N/A)

Große Geschichte wird auf kleine Geschichten heruntergebrochen, die Einstellungen der Protagonisten wandeln sich: Hier die Großmutter, die bis zu ihrem Tod überzeugte Sozialdemokratin war, aber die NS-Mitgliedschaft ihres Mannes als notwendig rechtfertigt; da die Tochter, die trotz SPÖ-Parteibuch Kurt Waldheim als Präsident gewählt hat, dessen Kandidatur seine Landsleute zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zwang; und dann noch die Enkelin, die sich vor der "Islamisierung des Abendlandes" fürchtet und "eine der rechtsextremen Parteien" wählt. Politische Ideale werden verraten, um persönlich profitieren zu können oder schlicht als Reaktion auf Ängste. All das bekannt - und wunderbar erzählt.

Der Roman erzählt die Zeit zwischen Ibiza-Video und Neuwahlen

In diesem Roman werden österreichische Lebenslügen beschrieben, und das mit einer Leichtigkeit, die verblüfft. Das hat nichts vom Furor und der intellektuellen Brillanz eines Thomas Bernhard, aber beide Autoren arbeiten sich auf höchst unterschiedliche Art an Österreich ab. Zumindest kennt jeder in Österreich jemanden, der so ist wie von Daniel Wisser beschrieben. Und der solche Sätze von sich gibt, wie jenen über die SPÖ: "Die haben einfach nicht die richtigen Leute."

Die Handlung des Romans konzentriert sich auf den Zeitraum zwischen September 2018 und Oktober 2019 - jene Monate vor und nach der Veröffentlichung des sogenannten Ibiza-Videos, das zum Platzen der Regierung aus ÖVP und FPÖ führte, und in denen die SPÖ nach einer vorgezogenen Wahl dennoch in der Opposition blieb. Während Victor auf die politischen Entwicklungen mit Apathie reagiert, löst die neue politische Konstellation bei Karoline flirrende Aufgeregtheit aus - auch das zwei typische Reaktionen.

Dass dieses Buch in Österreich gleich nach dem Erscheinen auf den Bestsellerlisten landete, verwundert nicht. Denn die verschiedenen Ebenen erschließen sich in all ihren Verzweigungen vor allem für jene, die die politischen Verhältnisse im Land kennen. Wer in Wien lebt, kennt vermutlich das Café Walther in Favoriten oder das Gasthaus Reinthaler im ersten Bezirk, dem Herzen der Stadt. Mit diesem, seinem fünften Roman, hat sich Daniel Wisser, der bereits mit dem österreichischen Buchpreis ausgezeichnet wurde, als eine der spannendsten Stimmen der österreichischen Gegenwartsliteratur etabliert.

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