Die Vizepräsidentin des Bundestages, Katrin Göring-Eckardt, heißt den Vorschlag einer Parlamentspoetin gut. Das bedeutet für die Kunst nichts Gutes.
Man stelle sich vor: Paul Ziemiak hat die Augen geschlossen, sein Kopf fällt alle Sekunden auf seine rechte Schulter, dann zuckt er kurz zusammen, öffnet die Augen, beruhigt sich, schläft wieder ein. Die Grünen-Abgeordnete Hanna Steinmüller ist eher wütend über die fünfzehn Minuten, die man ihr wegnimmt, und spielt "Candy Crush" . Alles ist sinnvoller als das, was man hier ertragen soll: Im Plenarsaal steht eine Dichterin, gerade aus einem der deutschen Literaturinstitute entlassen, und trägt ein Sonett über die Impfpflicht vor. Für 24 Monate ist sie Parlamentspoetin. Das Künstlerleben hat sie sich bis vor Kurzem anders vorgestellt, aber hey, 3000 Euro Stipendium im Monat sind so schlecht auch nicht.
Sollen wir Schriftsteller jetzt als Storytelling-Agentur für die Fortschrittskoalition arbeiten?
In dieser Zeitung haben am 4. Januar in einem bemerkenswert unironischen Beitrag die Schriftstellerinnen Mithu Sanyal, Simone Buchholz und ihr Kollege Dmitrij Kapitelman eine Parlamentsdichterin gefordert, die zwischen Gesellschaft und Politik vermitteln, außerdem "irritieren" und emotionalisieren soll. Ausgestattet werden soll die Dichterin oder der Dichter mit einem kleinen Büro im Reichstag und einer angemessenen Apanage. Katrin Göring-Eckhardt lobte die Idee auch sofort auf Twitter, wenn auch in etwas hölzerner Diktion: "Eine starke Kultur und ein wertschätzender Umgang mit unserer Sprache sind essenziell für jede offene Gesellschaft." Die Vizepräsidentin des Bundestags möchte Sanyal et al. nun kennenlernen, um den Vorschlag zu besprechen. Ihre Bereitwilligkeit offenbart, wie wenig tatsächliche "Irritation" sie von Dichtern erwartet: Hier bewerben sich Eifrige, die gar nicht wirklich nerven möchten. Ihr Wunsch ist es vielmehr, "politische Debatten und Strömungen in Poesie oder Prosa zu gießen", und sie fänden es schön, wenn das Gegossene als "Leuchtschriften oder Lichtinstallationen an der Bundestagsfassade" projiziert werde. Das klingt weniger nach Menschen, die auf "Irritation" aus sind, als nach Cheerleading. Sollen wir Schriftsteller jetzt als Storytelling-Agentur für die Fortschrittskoalition arbeiten?
Vielleicht hätten wir beide gar nicht so schlechte Karten auf die Position des Parlamentsdichters? Schließlich soll das Amt "so divers wie nur irgend möglich" besetzt werden. Die schlechte Nachricht: Leider sind wir bis auf Weiteres verhindert, zumindest Montag bis Freitag von neun bis 17 Uhr. Wir arbeiten beide im öffentlichen Dienst: Der eine unterrichtet Teenager an einer berufsbildenden Schule in Kaiserslautern, die andere schreibt sehr höfliche E-Mails, telefoniert und plant Budgets. Es ist wahr: Wir beide haben uns das mit der Literatur auch einmal glamouröser vorgestellt. In den Bundestag wollen wir trotzdem lieber nicht. Warum?
Die meisten Schriftsteller brauchen einen Brotberuf - und für die Kunst ist das gut so
Wir stehen morgens auf, heften am Monatsende unsere Gehaltsabrechnungen in Leitzordnern ab und sammeln Rentenpunkte. Abends schreiben wir dann an unseren Büchern, die, ehrlich gesagt, nicht viel gelesen werden, aber wir lieben und brauchen das Schreiben eben. Wer Schriftsteller sein möchte, verbringt wenig Zeit damit, sich zu fragen, wieso und wozu - es ist nun mal ein Bedürfnis, manchmal sogar ein Zwang. Was man sich als Schriftsteller hingegen oft fragt, ist, wie - wie soll man dem Bedürfnis nachgehen, wenn die Welt sich immer weniger für Literatur interessiert? Wir bekommen hin und wieder einen Vorschuss und werden für Lesungen bezahlt, aber ein sicheres Einkommen ist das nicht. Deshalb sind wir auf ihn angewiesen: den Brotberuf - und das ist so in Ordnung. Um das schreiben zu können, worauf man Lust hat, darf man nicht finanziell auf Literatur angewiesen sein. Nur so entzieht man sich der Not, in seinem Werk Debatten hinterherzurennen und Sujets zu bearbeiten, weil man glaubt, dass sie die Öffentlichkeit interessieren. Um schreiben zu können, was man selbst braucht, braucht man einen Beruf. Gedichte für Politiker zu schreiben ist allerdings keiner, aus gutem Grund.
Doch es geht nicht nur um das schreibende Individuum. Den Initiatoren der Idee mit der Parlamentspoesie zufolge soll die Kunst dem Land helfen, friedlicher, gerechter, ökologischer zu werden. Die Kunst wird als gesellschaftlich verbindendes Element betrachtet, das zwischen Regierung und Gesellschaft vermitteln und politische Ideen ins Volk tragen und auch die Politik auf Probleme aufmerksam machen soll - eine Art Storytelling. Der Staat braucht also die Kunst, um auf die Gesellschaft einzuwirken und sich zu erklären - doch braucht die Kunst auch den Staat? Ja, sagen Mithu Sanyal, Dmitrij Kapitelman und Simone Buchholz, denn gleichzeitig soll auch auf die Literatur eingewirkt werden: Die Autoren fordern einen Politisierungsschub und wünschen sich Mitgestaltung.
Sollen sich Abgeordnete zu Abschiebungs-Balladen die Tränen aus den Augen wischen?
Der Beitrag plädiert hier nicht nur für eine engagierte Literatur, sondern sogar für engagierte Staatsliteratur, die zwangsläufig in Politkitsch münden würde, zumindest suggeriert das die zuckrige, phrasenhafte Sprache des Beitrags: "Wir sind relevant, wir werden gehört und deshalb haben wir auch eine Verantwortung." Auch Politik wird dadurch verniedlicht: Es geht nicht um Waffenlieferungen ins Ausland, um die bedrückende Lage unserer ökonomisch Abgehängten, nein, es geht jetzt darum, dass sich politische und künstlerische Elite gegenseitig bestätigen. Alle sind in dieser Lesart systemrelevant. Sollen wir mit unseren zarten Dichterhändchen Kieselsteine auf die schweren Mauern des Reichstages werfen, wenn mal wieder Dutzende Afghanen abgeschoben werden? Und danach eine Ballade dichten, zu der die Abschieber sich Tränen aus den Augen wischen können? Wahrscheinlich gibt es effizientere künstlerische Interventionen.
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Wir glauben an eine unabhängige Kunst: Wir Künstler sind nicht systemrelevant und wollen es auch nicht sein. Wir wollen als Künstler keine Verantwortung in einem Staat tragen. Künstler liefern selten eine zuverlässige moralische oder politische Orientierung. Sie sind keine Maskottchen, sie sollten auch keine Symbole werden, auch nicht für ein kleines Honorar. Das bedeutet nicht, dass Künstler und Kunst keinen Einfluss auf gesellschaftliche politische Prozesse nehmen können, aber sie müssen sich nicht fortwährend bewähren oder sich durch behauptete Systemrelevanz eine Daseinsberechtigung erschwindeln. Kunst muss nicht unmittelbar politisch nutzbar werden.