Computerspiel:Im Westen geht es weiter

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"Red Dead Redemption 2" revolutioniert mit irrer Detailgenauigkeit sein Genre. Dabei war man vom Realismus als Darstellungsprinzip des Computerspiels gerade abgekommen. Aus guten Gründen.

Von Nicolas Freund

Der Wilde Westen kostet etwa 70 Euro und ist knapp 100 Gigabyte groß. Für den Download sollte man mit einer durchschnittlichen deutschen Internetverbindung mindestens einen Nachmittag einplanen. Dann kann es losgehen: Als Outlaw Arthur Morgan liefert man sich Revolverduelle mit verfeindeten Gangs, überfällt Eisenbahnen, jagt eine von mehr als 200 verschiedenen Tierarten, probiert Hüte an, striegelt sein Pferd, schneidet sich die Haare oder kocht einfach nur Kaffee.

Das Computerspiel "Red Dead Redemption 2" ist gerade ein paar Tage alt und gilt schon jetzt als das wichtigste Spiel des Jahres, wenn nicht der Dekade oder gar aller Zeiten. Es ist eines dieser Ereignisse, über die Experten raunen, dass danach nichts mehr so sein wird wie zuvor. Der Detailgrad der Spielwelt und der möglichen Interaktionen mit ihr ist tatsächlich noch nie da gewesen.

Dazu kommt, dass "RDR2" von den Entwicklern des Studios Rockstar Games stammt, die auch die äußerst beliebte "Grand Theft Auto"-Serie produzieren, und zu den wenigen Spielemachern gehören, deren neueste Werke erwartet werden wie sonst nur "Harry Potter"-Bände oder "Star Wars"-Filme. Mehr als zehn Millionen Exemplare sollen alleine in der ersten Woche verkauft worden sein, was mehr als 700 Millionen Dollar Umsatz bedeutet. "RDR2" hat damit den zweiterfolgreichsten Start, nicht nur aller Computerspiele, sondern aller Filme, Bücher, Alben und anderen Unterhaltungsprodukte hingelegt. Erfolgreicher war nur "GTA 5", ebenfalls von Rockstar Games.

Dabei hat "RDR2" mit den sonst derzeit beliebten Handyspielen oder dem Ballerspiel "Fortnite" nicht viel gemeinsam. Müsste man ein Genre für "RDR2" definieren, dann träfe es Wildwest-Simulation am ehesten. Geschossen wird natürlich und auch nicht wenig. Wichtiger sind aber all die Dinge, die in der frei erkundbaren, riesengroßen Spielwelt darauf warten, entdeckt zu werden: In der Nähe eines Bergsees soll ein fieser, großer Grizzlybär gesichtet worden sein. Wer möchte, kann sich auf die Jagd nach ihm begeben, inklusive Zelten und Fallenbauen. In einem Saloon bittet ein verzweifelter Autor um Unterstützung. Er arbeitet an der Autobiografie eines legendären Revolverhelden. Weil der ständig betrunken ist, kann er dabei keine große Hilfe sein. Ob man dem Autor bei der Recherche helfen könne und die Weggefährten des Revolverhelden aufspüren, damit sie ihre Version seiner Lebensgesichte erzählen?

Stille Übereinkunft: Berge sollen realistisch sein, das Häuten von Tieren aber nur ein bisschen

Das sind nur die kleinen Abenteuer die am Wegesrand warten, die Hauptgeschichte des Cowboys Arthur Morgan und seiner Gang, die sich mit allen möglichen großen und kleinen Verbrechen über Wasser hält, würde alleine einen Roman füllen. Ihr größter Verdienst ist es aber, den Spieler durch den virtuellen Wilden Westen zu führen. Der ist der eigentliche Hauptcharakter des Spiels. So ziemlich alle Landschaften, die man auf dem nordamerikanischen Kontinent finden kann, haben die Entwickler jahrelang von Hand nachgebaut: verschneite Bergen, tiefe Nadelwälder, karge Steppen, schwüle Sümpfe. Sie sind realen Vorbildern nachempfunden, aber entsprechen keinen realen Orten.

Die schöne Welt ist den Cowboys vorbehalten: Spielszene aus "Red Dead Redemption 2". (Foto: Rockstar Games/dpa-tmn)

Diese Welt ist so erfunden, wie das Yoknapatawpha County in den Romanen William Faulkners. Die Grafik ist noch immer nicht perfekt, aber es ist ungemein beeindruckend, wie Pferde, Menschen und Kutschen tiefe Spuren im Schnee hinterlassen oder sich die Äste der Bäume biegen, wenn man auf der Jagd durchs Unterholz schleicht und das schon seit Minuten mühsam verfolgte Reh plötzlich davonstiebt, aufgescheucht von einer heranpreschenden Kutsche, die man selbst noch gar nicht bemerkt hat. Es macht großen Spaß, nur durch diese ideale Landschaft zu spazieren, neue Tiere zu entdecken, das Wetter zu beobachten oder zu staunen, wie das Morgenlicht auf einen Bergsee fällt.

Es ist auch beeindruckend, wie einlullend diese Spielwelt wirken kann, aber tatsächlich wird durch "RDR2" dieses Prinzip nicht neu erfunden. Millionen Spieler erlebten Ähnliches im Vorgänger von 2010 oder in Spielen wie dem Fantasyepos "Skyrim", das schon 2011 erschien.

"RDR2" ist so detailgetreu, dass es teilweise lächerlich ist. Wenn etwa der Schnee unter den Pferden gelb wird oder der abgebrühte Arthur Morgan auf einem Geröllhang ausrutscht und seinen Hut verliert. Nicht so schlimm, den Hut bekommt man immer von seinem Pferd zurück, egal in welche Schlucht oder in welchen Fluss er gefallen ist. Dass das wiederum alles andere als realistisch ist, stört nicht. Die immense Detailverliebtheit des Spiels rückt aber die Spielmechaniken eigenartig in den Vordergrund. Plötzlich fällt es sehr auf, dass man dem Pferd ja eigentlich keinen Haferkeks gibt, sondern nur eine Taste gedrückt hat. Es gibt eine stille Übereinkunft zwischen Spielern und Entwicklern, dass die Berge realistisch sein sollen, das Häuten von Tieren aber bitte nur ein bisschen. Hier zeichnet sich ein Konflikt ab, der umso schärfer wird, umso realistischer Spiele sein wollen.

Andere Spieleentwickler versuchen deshalb schon seit Jahren nicht mehr, ihre Produkte am Fotorealismus, der Physik und der völligen Immersion auszurichten. Sie stilisieren ihre Welten und Spielfiguren lieber. Das lässt Raum für die Vorstellungskraft der Spieler. Manche Figuren sollten besser nur vage ausformuliert sein, das ist eine Faustregel des Drehbuchschreibens und in fast jedem Film oder jeder Serie findet man Figuren, die weit weniger detailliert geschildert werden als die anderen, weil sie eine Projektionsfläche für den Zuschauer sein sollen.

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So beispiellos detailliert, anspielungsreich, klug und liebevoll die kleinen und großen Geschichten in "RDR2" erzählt werden, bleibt der Spieler oder die Spielerin als Arthur Morgan doch etwas außen vor, nicht nur, weil zum Beispiel eine weibliche Figur schon gar nicht vorgesehen ist, sondern weil dieser Mann kaum Raum lässt. Hier scheint es ein Missverständnis zwischen Spielen und Erzählen zu geben, die eigentlich auch nicht so leicht miteinander zu vereinbaren sind. Der Zugang zu dieser Welt ist Cowboys vorbehalten.

Dabei sind die ja eine mythologisierte Erscheinung, historisch verklärt wie das ganze Westerngenre. "RDR2" spielt 1899, an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, dem amerikanischen Jahrhundert. Seit dem Ende des Bürgerkriegs ging es zu dieser Zeit mit der jungen Nation steil bergauf. Trotz grassierender Korruption in Politik und Wirtschaft, trotz massiver Fremdenfeindlichkeit gilt das Ende des 19. Jahrhunderts als eine goldene Epoche der Vereinigten Staaten.

Die Industrialisierung und die aufblühende Wissenschaft brachten neue Wunder und ungeahnten Wohlstand. Der Kontinent war noch immer nicht ganz erschlossen, die Frontier versprach jedem, der gewillt war, sich ins Abenteuer zu stürzen, ungeahnte Möglichkeiten im endlosen Westen des Landes. Die Zukunft schien besser und besser werden zu können, und im Rückblick weiß man, dass diese Stimmung richtig war, denn für viele Jahrzehnte sollte es immer nur besser werden.

Vielleicht gehört es zur Faszination von "RDR2", dass die Landschaften darin nicht nur traumhaft aussehen, sondern dass sie zu einer Version der Welt gehören, in der der amerikanische Traum geboren wurde und in der es Probleme mit der Natur wie den Klimawandel noch nicht gab. Eine Zeit, in der die Zukunft, anders als im Jahr 2018, nicht nur verheißungsvoll erschien, sondern auch direkt vor der Tür stand. In "RDR2" befinden wir uns in diesem Zustand des "Kurz davor". Ereignisse zeichnen sich ab, erscheinen wie die virtuelle Landschaft, zum Greifen nah, und werden dann doch noch nicht, nicht mehr oder nur vielleicht Wirklichkeit.

© SZ vom 02.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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