Tanz:Wo das Digitale wuchert

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Alexander Whitley Dance Company: "Anti-Body", ein Tanz mit den Pixeln. (Foto: Sodium)

Schrullige Politik, geradlinige Kunst: Das Stuttgarter Tanzfestival "Colours" zeigt unter anderem Highlights aus London.

Von Dorion Weickmann

Was Ausfälle betrifft, ist auf die Bahn derzeit rundum Verlass. Am vergangenen Samstag sorgte ein Oberleitungsschaden im Stuttgarter Hauptbahnhof für Chaos und an der Ländle-Peripherie strandende Züge. Auch die Tanzwelt, die in diesen Tagen aus ganz Europa zum Festival "Colours" anreist, musste irgendwo zwischen Mannheim und Karlsruhe aufgelesen und ins Theaterhaus auf dem Pragsattel verfrachtet werden. Nur die Crew von Alexander Whitley hatte kein Problem: Die Company gehört zu den zwei Festival-Attraktionen, die aus London kommen. Und von dort nahm der Choreograf mit drei Tänzern, drei Technikern und einer Producerin eben den Flieger.

Ein Treffen kurz vor der Vorstellung? Kein Problem. Der 42-jährige Whitley bestellt ein Bier, das Gespräch landet sofort bei Boris Johnson. "Ein Desaster", sagt Whitley, "das alles treibt die Gesellschaft in eine noch tiefere Spaltung hinein." Da spricht nicht nur der Künstler, sondern auch der Politologe. Berufsbegleitend hat er ein Studium absolviert: "Ich wollte die Welt anders wahrnehmen, begreifen und jenseits künstlerischer Auseinandersetzung analysieren können."

Gegenentwurf zu Whitleys Pixelpointillismus: Botis Sevas "BLKDOG". (Foto: Camilla Greenwell)

Whitley tanzt länger, als er sich erinnern kann: "Meine Eltern sagen, ich muss jünger als drei Jahre gewesen sein." 1980 im Norden Englands geboren, zieht es ihn zur Ausbildung an die Royal Ballet School ("eine zwiespältige Erfahrung"), dann weiter in die ersten Engagements. Bevor er einen radikalen Schnitt wagt, sich dem Zeitgenössischen zuwendet, um vor allem die Schnittstellen zwischen AI und Choreografie zu erkunden. Genau das macht Whitleys Arbeit so interessant: Sie stößt neue Räume auf und ein performatives Denken an, das über den Körper hinausweist.

Ein kluger Schachzug, dass sich die Festival-Kuratoren Meinrad Huber und Eric Gauthier Whitleys jüngstes Opus "Anti-Body" als Deutschlandpremiere sicherten. Der einstündige Act zündet ein Feuerwerk in Schwarzweiß und erinnert an die hochfrequente Impulsgebung in neuronalen Netzwerken. Drei Tänzer erzeugen den Effekt. Sie tragen Motion-Capture-Anzüge und Sensoren, die mit einer speziell codierten Software kommunizieren. Ihre Bewegung triggert das Geschehen, erzeugt Lichtskulpturen und LED-Fächer, Spots und Dots und galaktische Wirbel. Aufgefangen und reflektiert werden die künstlichen Gebilde von transparenten Screens vor und hinter den Performern. Das Trio agiert Seite an Seite, doch seine wahren Tanzpartner sind die fluiden Formen, künstlichen Wiedergänger und gespenstischen Nebel-Avatare, die jeder für sich alleine erschafft: mit schwingenden Armen, kreiselnden Beinen, tief abtauchendem Oberkörper, Sprüngen und Spreizposen.

Wechselspiel zwischen Umarmung und Überbietung: "Salema Revisited" von der Andonis Foniadakis Dance Company. (Foto: Charis Akriviadis)

Die Motorik der Tänzer, die sich in ihr Tun wie in eine meditative Trance versenken, treibt "Anti-Body" vorwärts. Whitley entwirft eine hyperästhetische Vision totaler Einsamkeit: Die Unwirtlichkeit der schönen neuen Bildschirmwelt und ihre Reizüberflutung prägen eine zusehends digital überwucherte Gesellschaft. Andererseits lockt die IT-getriggerte Überschreitung körperlicher Limits, die sich aus dem Zusammenspiel Mensch-Maschine ergibt. Im "Colours"-Portfolio hat Whitleys Position USP-Qualitäten, weil seine Kollegen sich ans Primat des Analogen halten. Dabei liegen Rituale voll im Trend, so etwa in "Salema Revisited", Andonis Foniadakis' Huldigung an seine griechische Heimat und das Wechselspiel zwischen Tanz und Musik, Umarmung und Überbietung. Gleiches gilt für Marcos Moraus surreale "Sonoma"-Fantasie, die vom Kostüm bis zur Bewegungsregie mit katalanischen Einsprengseln arbeitet. Auch Dada Masilos "The Sacrifice", das zuletzt im Festspielhaus Hellerau zu sehen war und dieser Tage bei "Colours" Station macht, gehört in den Reigen der Rituale. Die südafrikanische Choreografin steigt in die Fluten der Überlieferung und transponiert den "Sacre"-Mythos in traditionelle Tanzidiome, was phasenweise ein etwas verhaspeltes Ergebnis zeitigt.

"Wir müssen die Gegenwartsfragen stellen, auch im Tanz - warum sonst sollten öffentliche Gelder fließen?"

Messerscharf spitzt dagegen Botis Sevas "BLKDOG" sein Szenario zu. Die Inszenierung, die Ende der Woche ebenfalls als deutsche Erstaufführung ins Theaterhaus kommt, ist der Gegenentwurf zu Whitleys Pixelpointillismus. Bei Seva hocken sieben Typen in Hoodie-Kluft auf der halbdunklen Bühne, Kinderverse tröpfeln aus dem Off, die Stimmen gerade mal dem Windelalter entwachsen. Sekunden später entfesselt "BLKDOG" einen Hip-Hop-Bildersturm, der die Verzweiflung einer ganzen Generation formuliert: jener ins Abseits manövrierten Youngster, für die Gewalt ein Kommunikationstool ist, Zurücksetzung der einzig verlässliche Begleiter und die Clique der Familienersatz. Seva, der das Stück im Rückblick auf depressive Episoden und die für ihn verstörende Erfahrung der Vaterschaft gemacht hat, ist eine Entdeckung: Der Dreißigjährige verknüpft Straßentanz mit Club- und Contemporary-Elementen und liefert so die dichte Beschreibung eines urbanen Soziotops, das dem Klassismus der Städte- und Bildungsplanung den Spiegel gesellschaftlichen Versagens vorhält.

Nicht von ungefähr stammt "BLKDOG" wie "Anti-Body" aus London, dem Hotspot der britischen dance industry. Vom Kontinent aus wird das britische Fördersystem häufig als Brutkasten für publikumsattraktive Produktionen geschmäht, die mit kunstfremden Infusionen gepäppelt werden. Alex Whitley sieht das Risiko der Selbstzensur: "Es kann passieren, dass du als Künstler danach schielst, was Zuschauer zieht." Aber zugleich hat seine Generation auch dank der Förderrichtlinien den Finger am Puls der Zeit: "Wir müssen die Gegenwartsfragen stellen, auch im Tanz - warum sonst sollten öffentliche Gelder fließen?" Problembewusstsein statt Profilierung, auf diesem Humus gedeihen die derzeit spannendsten Tanzkreationen.

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