Essays von Christian Lehnert:Gesten Gottes

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Auch theologisch ein Problem: Engel. Hier der Erzengel Michael im Kampf gegen die abtrünnigen Engel auf Peter Paul Rubens' Gemälde "Der Engelsturz". (Foto: Alte Pinakothek München/gemeinfrei)

Der Lyriker Christian Lehnert schreibt illusionslose Prosa über das unzeitgemäße Wissen von den Engeln - und die Wohlfühlspiritualität von heute.

Von Birthe Mühlhoff

Engel nannte der evangelische Theologe Karl von Hase im 19. Jahrhundert einmal scherzhaft "metaphysische Fledermäuse". Seitdem sind die himmlischen Wesen in ihrem Ansehen nicht gerade gestiegen. Engel haben eine ähnliche Wirkung wie Sinnsprüche vor kitschigen Sonnenuntergängen im Internet: Sie verleiten dazu, denjenigen, der sich zu ihnen bekennt, intellektuell nicht für voll zu nehmen.

Der Leipziger Schriftsteller und Pfarrer Christian Lehnert, von dem bereits sieben Gedichtbände bei Suhrkamp erschienen sind, widmet sich in seinem kenntnisreichen und sprachlich dichten Prosaband "Ins Innere hinaus. Von den Engeln und Mächten" der Kraft, die von diesen schwer greifbaren Wesen ausgeht.

Über die Gegenwart macht sich Lehnert keine Illusionen: An unserem Selbst perlen die Engel heute ab "wie der Regen auf der Frontschutzscheibe eines Autos, und der Scheibenwischer schiebt sie zum Rand, hinein in die Ramschkisten der Erbauungs- und Esoterikabteilungen in den Buchläden". Auch theologisch sind Engel ein Problem. Denn sind sie nicht eine "spirituelle Verunreinigung" im Monotheismus? Als Boten - angeli - existieren sie tatsächlich auch in anderen spirituellen Traditionen, im Judentum und Islam. Sie sind nicht etwa pantheistische Deko, sondern "Sehhilfen" für die Unbegreiflichkeit Gottes. Oder mit Lehnert formuliert: "Der Engel ist Geste, die Bedeutung ist Gott."

Von keiner übergreifenden These zusammengehalten, auf kein Fazit zulaufend, gleiten die einzelnen Essays assoziativ ineinander. Begegnungen mit Menschen, die ins Pfarrhaus kommen, stehen neben frei nacherzählten Stellen aus dem Alten Testament und die wiederum neben wunderbaren Naturbetrachtungen. Eingewoben sind Gedanken von Jakob Böhme, Meister Eckhart, Hildegard von Bingen, genauso wie von Cioran oder Kafka.

Der Schrei einer Ratte, auch eine Art Engelsgesang

Dennoch wirkt die Vielzahl an unterschiedlichen Formaten und Annäherungen an Genres wie aus einem Guss. Auch autobiografische Erinnerungen fügen sich nahtlos ein. So berichtet Lehnert, wie er im Frühjahr 1989 mit anderen wehrdienstverweigernden Bausoldaten in den Chemiewerken Leuna nach einer Havarie eine zähflüssige Substanz zu entfernen hatte. Oder wie er als Student in Leipzig eine Wohnung in einem Abrisshaus bezieht. Das Dach ist zwar eingefallen, aber immerhin tropft es nicht bis in den zweiten Stock hinunter. Mit der einzigen verbliebenen Nachbarin verbrennt er gemeinsam im Keller eine Ratte, um der Plage Herr zu werden. Der Schrei einer Ratte, die stirbt: für Lehnert ist auch das eine Art Engelsgesang. Ein Laut, der durch Mark und Bein geht, und den verändert, der ihn hört.

Die Erzählungen haben etwas Unwirkliches. Als Leser kann man sich nie ganz sicher sein, ob das, was Lehnert über die Insektenbeschreibungen von Jean-Henri Fabre schreibt, nicht auch auf seine eigenen Schilderungen zutrifft: "So plastisch" beschreibe Fabre die Wespen, "dass sie immer wieder wie fiktional erscheinen".

Lassen sich Engel beschreiben, klassifizieren wie Insekten? Die Angelologie mit ihren komplizierten Hierarchien hat es immer wieder versucht. Die Kunst ebenfalls, indem sie Engel als Zwitterwesen darstellt, in der Renaissance als beschwingte Jünglinge, im Barock eher in Richtung kindliche Pummelchen. "Domestiziert wie Hausschweine" nennt Lehnert diese Putten, nur um an anderer Stelle ganz subtil auch zu ihrer Ehrenrettung anzutreten.

Dabei zielen Lehnerts Gedanken nicht auf Klarstellung und verzichten auf Belehrung. Sie schlagen einen geschickten Kurs zwischen der Abgeklärtheit unserer Gegenwart und der Verklärung ein, die der Einbruch des ganz anderen ins Leben bedeuten kann. Wenn es um Engel geht, gilt es Widersprüchlichkeit auszuhalten. Engel sind, schreibt Lehnert an einer Stelle unverblümt, "unwiderlegbar eine esoterische Spinnerei". Was ein anderer Mensch als Vision erlebt, müssen wir heute rational "als dissoziativen Zustand oder als Halluzination interpretieren".

Wohlstandsfrömmigkeit greift um sich in den Kirchen

Und trotzdem gibt Lehnert seinem Satz, dass "nicht ganz bei sich ist", wer eine Engelserscheinung hat, eine poetische Wendung: Mein engelhafter Doppelgänger, der "Schutzengel" eines jeden Menschen, nimmt vorweg, wer ich sein werde oder sein könnte - und führt mich. Wie könnte man da "ganz bei sich" sein?

Lehnerts Erinnerungen aus dem "Freigehege" DDR bilden eine Folie für Beobachtungen neuer Unfreiheiten in unserer Gegenwart. Selbstverwirklichung und Selbstsorge sind zu gesellschaftlichen Imperativen geworden. Niemandem wird mehr vorbehaltlos das Recht zuerkannt, sich anders zu verhalten, als es der eigene Vorteil verlangt. Auch in den Kirchen sieht Lehnert eine Wohlstandsfrömmigkeit um sich greifen, die sich nur noch um unsere eigene Geborgenheit dreht: Gott liebt uns, so wie wir sind. Eigentlich wäre das die Aufgabe von Schutzengeln. So würden sie uns davor bewahren, Gott irgendwelche Worte in den Mund zu legen.

Für wen der religiöse Zug längst abgefahren ist, der wird wohl auch mit diesem Buch nicht darauf aufspringen. Großen Gewinn verspricht es allerdings für jeden, der sich nicht mit der antiquierten Bimmelbahn zufriedengeben will, als die uns Religion oft präsentiert wird.

Christian Lehnert: Ins Innere hinaus - Von den Engeln und Mächten. Suhrkamp, Berlin 2020. 234 Seiten, 22 Euro.

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