2018 sorgte eine Studie des Börsenvereins des deutschen Buchhandels für Aufregung. Dem Markt waren rund sechs Millionen Buchkäufer abhanden gekommen. In der Berichterstattung wurde aus der Krise des Buchverkaufs sehr schnell die Krise des Lesens. Zum Untergang des Abendlandes war es nicht mehr weit. Sogar Bundespräsident Steinmeier warnte, "wenn wir aufhören zu lesen, und damit meine ich, richtige Bücher zu lesen, und wenn die Schriftsteller aufhören zu schreiben, dann würde für unsere Suche danach, wer wir sind und wer wir sein wollen, etwas ganz Entscheidendes fehlen". Ein guter Leser zu sein, bedeutet aus dieser Perspektive, in "richtigen Büchern" zu lesen, und nur wer "richtige Bücher" schreibt, ist ein wahrer Schriftsteller.
Genau das aber können Autoren von sich aus nicht leisten. Sie schreiben Texte. Wenn daraus das Kultobjekt "Buch" werden soll, müssen sie an einem hochkomplexen sozialen Spiel teilnehmen. Carolin Amlinger hat nun aus literatursoziologischer Perspektive entschlüsselt, wie sich die Taktiken und Strategien dieses Spiels in den vergangenen Jahrzehnten verändert haben. Es erinnert ein wenig an den Fußball: Im Vergleich einer Partie der 1970er-Jahre mit aktuellen Austragungen erkennt man das Spiel mühelos wieder. Die Akteure sind seitdem jedoch so viel schneller geworden, der Bewegungsablauf hat so an Dynamik gewonnen und der Saisonbetrieb geht so an die Substanz, dass heutzutage selbst die Stars von damals mit ihrer Spielweise in jeder Hinsicht alt aussähen. Der ganze Betrieb steht unter enormem Druck, der Abstand zwischen den konkurrenzfähigen Akteuren und dem Rest hat im globalen Wettbewerb gewaltig zugenommen. Und obwohl es sich offenkundig um ein großes Geschäft handelt, tun die Fans so, als ginge es um etwas ganz anderes: um echte, authentische Erlebnisse, die man benötigt wie die Luft zum Atmen.
In den Neunzigern wurde das Verlagswesen zum internationalen Business
In den 1990er-Jahren konzentrierte sich das Verlagswesen in internationalen Konzernen, für die kurzfristige Renditeerwartung zum Alltag zählten, egal um welche Güter auch immer es sich handelte. Die Umschlagzeiten für Bücher wurden kürzer, die Fokussierung auf Spitzentitel größer. Bei den Autoren setzte sich der Trend zur Professionalisierung fort. Studiengänge in Leipzig und Hildesheim machten Ausbildungsangebote. Agenturen versprachen, wie es auf der Homepage von "Graf & Graf" heißt, "die Kreativität von Autor*innen mit den sich verändernden und wachsenden Anforderungen des Buchmarktes erfolgreich in Einklang zu bringen".
Betrachtet man rückblickend die Geschichte der Literaturdebatten in den 1990er-Jahren, dann frappiert der ikarische Absturz des hohen Tons: Zu Beginn wurde im "deutsch-deutschen Literaturstreit" um Christa Wolf die gesamtgesellschaftliche Verantwortung des Schriftstellers und das Verhältnis von Ästhetik und Politik debattiert. Am Ende des Jahrzehnts bekannte man sich im gehobenen Feuilleton offen zum erfolgreichen, unterhaltsamen und konsumentenfreundlichen Bestseller und plauderte munter über hohe Vorschüsse und Verkaufszahlen ab 30 000 Exemplaren, als handle es sich dabei um ein valides Zeichen für den guten Zustand der deutschen Gegenwartsliteratur.
Dann aber erschütterte die Digitalisierung den literarischen Markt und die Öffentlichkeit. Neue Medien und Mediengebrauchsformen, Produktions- und Vertriebsmöglichkeiten machten dem buchzentrierten Literaturbetrieb zu schaffen. Diese geläufige Diagnostik ist gewiss richtig. Man muss aber auch sehen, dass das Buch nicht zufällig das erste Objekt war, an dem der digitale Kapitalismus seine Möglichkeiten ausprobierte. Nachdem Jeff Bezos 1994 bei einem der aufregendsten Hedgefonds der Wall Street gekündigt hatte, um Amazon zu gründen, übervorteilte er seine Konkurrenten im Buchhandel einerseits durch seine unvorstellbare Bereitschaft dazu, sein Unternehmen zu verschulden, um vom Marktteilnehmer zum Marktbesitzer zu werden. Andererseits erkannte er in den zwei Seiten des Buchs genau die Eigenschaften, die aus der Konsumkrise der industriellen Moderne führen sollten: Beim Buch handelte es sich um ein hochgradig standardisiertes Objekt, dass sich massenhaft herstellen, gut lagern und leicht verschicken ließ. Zugleich versprach das Buch Singularität und individuelle Erlebnisbefriedigung.
Im Hintergrund entstand so in den Amazon-Lagerhallen und im Lieferverkehr ein Ausbeutungsbetrieb, der sich perfekt in prekäre Arbeitsverhältnisse einnistete und alle Chancen des Neoliberalismus nutzte. Auf der Schauseite stellte Bezos dagegen Kundenzufriedenheit an oberste Stelle, und seine Lieblingsabteilung "Personalization and Community" erzeugte eine Aura des Miteinanders für alle. Auch hier gilt: Das eine funktionierte nicht ohne das andere. Diese Zweiseitigkeit des Sozialen ist im Übrigen aufschlussreich für die aktuellen Debatten um die Frage, ob der kultursoziologische Ansatz von Andreas Reckwitz milieuspezifische Befunde zu schnell zur "Gesellschaft der Singularitäten" hochrechnet und dabei stabile hierarchische Gesellschaftsstrukturen unterschätzt. Blickt man auf Amazon als Paradebeispiel des digitalen Kapitalismus, dürfte sich erst aus der Zusammenschau der konkurrierenden Perspektiven ein angemessenes Bild des Sozialen ergeben.
Es zählt zu den Vorzügen von Carolin Amlingers Studie, dass sie solche Vexierblicke provoziert. Sie analysiert sehr viel mehr als die "verschlungenen sozialen Wege", auf denen "Autor:innen" werden, "was sie sind". Die Dissertation umfasst eigentlich gleich mehrere Bücher in einem: Es handelt sich auf den ersten 300 Seiten um eine Geschichte des Buchhandels in drei Längsschnitten vom 19. Jahrhundert bis in die unmittelbare Gegenwart der Corona-Phase; dann um eine Feldstudie zum aktuellen Literaturbetrieb; und schließlich um eine grundlegende Erkundung der ebenso unauflöslichen wie spannungsvollen Verschlingung von Ästhetik und Ökonomie im Konzept moderner Autorschaft. Dass sich diese drei Mammutprojekte selbst auf rund 800 Seiten nicht ohne verkürzende Aussagen über "die" Literatur und "den" Autor realisieren lassen, liegt auf der Hand. Entscheidend ist aber, dass nur die longue durée, verbunden mit dem Blick auf konkrete Praktiken und einer Analyse der Feldstrukturen, verständlich macht, was "literarisches Schreiben" eigentlich bedeutet.
Das Ideal kreativer Selbstverwirklichung kollidiert an allen Ecken und Enden mit den Zwängen des Literaturbetriebs
Zu den erstaunlichsten Befunden zählt dabei, wie sehr die interviewten Autorinnen und Autoren ihr Selbstbild noch immer an einem ganz traditionellen Konzept literarischer Kreativität orientieren: Schreiben bedeutet für sie eine Berufung, der sie nachgehen müssen, um ganz "sie selbst" zu sein und sich entfalten zu können. Dieses Stereotyp kollidiert offenkundig an allen Ecken und Enden mit den tatsächlichen Zwängen, unter denen Schreibende stehen, mit der Unsicherheit der Arbeitsverhältnisse und der Gemachtheit und Geschäftigkeit des Literaturbetriebs. Autorschaft kommt eben nicht naturgemäß von innen heraus, sondern benötigt Gelegenheiten und Vorbilder. Im Austausch mit Gleichgesinnten, also mit potenziellen Konkurrenten, verstehen Verfasser in Schreibkursen, -werkstätten und Literaturinstituten allmählich, was sie wollen könnten und sollten. Und wenn es gut läuft, findet sich dann ein Verlag, der ihnen sagt, worauf es tatsächlich ankommt. In einem wiederum spannungsvollen Aushandlungsprozess zwischen Autor, Lektorat, Herstellung, Marketing und Vertrieb werden dabei ästhetische und ökonomische sowie - in jüngerer Zeit verstärkt - politische Ansprüche vermittelt.
Auch dem Produktionsensemble der Verlagsarbeit gelingt die aufwendige Erzeugung von "Literatur" jedoch nur im Rahmen eines noch größeren Kollektivs: Durch den gesamten Literaturbetrieb wird das Buch normativ vorbelastet. Bildungseinrichtungen, Buchhandlungen, Feuilletonredaktionen, Buchblogs, Bibliotheken, Literaturhäuser, Festivals oder - wie gerade eben - Buchmessen und Literaturpreisjurys erinnern permanent daran, dass es sich um ein besonderes und wertvolles Gut handelt, um das man sich zu kümmern hat.
Diese Erinnerung verblasst jedoch immer mehr, und dies könnte Amlinger zufolge nun gerade daran liegen, dass sich literarische Arbeitsverhältnisse in vielen Hinsichten als prototypisch erwiesen haben. Prekäre Entlohnung verbunden mit der Erwartung hoher Einsatzbereitschaft, die Vermengung von Privat- und Berufsleben mit entgrenzten Arbeitszeiten, projektförmige Engagements mit dem Versprechen kreativer Selbstverwirklichung - all das ist inzwischen so normal geworden, "dass das normative Fundament, der Schriftstellerberuf sei eine Erwerbstätigkeit besonderer Art, erodiert". So endet Amlingers Studie mit einer Warnung: "Die mühsam errungene Autonomie der Literatur" ist "keine unumstößliche Tatsache". Wenn wir sie erhalten wollten, müssten wir etwas dafür tun.
Carolin Amlinger: Schreiben. Eine Soziologie literarischer Arbeit. Suhrkamp, Berlin 2021. 787 Seiten, 32 Euro.