Dick und arm - selbst schuld.
Ja, die Zurechnung von Krankheit erfolgt heute sehr stark auf individueller Ebene. Selbsthilfe, Selbstverwirklichung - das sind die Schlagworte unserer Zeit in allen Lebensbereichen, auch in der Gesundheit. Damit einhergeht eine moralische Aufladung: Ein dicker Mensch ist faul, wird von manchen vielleicht sogar als eklig empfunden. Kurzum, ein dicker Mensch ist ein schlechter Mensch.
Und verdient keine Hilfe?
Genau. Dabei ist der Zusammenhang zwischen Gesundheit und sozioökonomischem Status längst bewiesen!
Haben Sie Beispiele?
In manchen sozial schwachen Gegenden in Großbritannien haben die Bewohner eine signifikant geringere Lebenserwartung als in den übrigen Landesteilen. Und der Economist hat vor einiger Zeit Statistiken veröffentlicht, die belegen, dass bei Gutverdienern die Trainingszeit stark angestiegen ist, wohingegen sie bei Geringverdienern weiter abnimmt. Nicht nur die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auf - auch die zwischen Superfitten und Unsportlichen. Aber es ist unfair, diesen Menschen pauschal zu unterstellen, sie seien zu faul.
Welche anderen Gründe gibt es?
Vielleicht haben sie keine Zeit, Sport zu treiben, weil sie mehreren Jobs nachgehen müssen; vielleicht haben sie kein Geld fürs Fitnessstudio oder für kostspielige Trainigsklamotten; oder vielleicht fehlt ihnen schlicht das Wissen um eine gesunde Lebensweise. Zu sagen: "Jeder kann es schaffen im Leben, das Einzige, was es braucht, ist die richtige Einstellung" - das ist eine grausame Lüge. Die momentan verhindert, das wir die wirklich wichtigen Fragen stellen, um zu gesünderen Gesellschaften zu werden: Welche Rolle spielt die soziale Herkunft? Welche Bedeutung haben politische oder wirtschaftliche Faktoren?
Es ist doch seltsam: Wir haben eine weltweite Finanzkrise hinter uns, der Kampf gegen den internationalen Terrorismus hat gerade erst begonnen und aus Teilen der Erde fliehen Hunderttausende nach Europa - warum ist das Einzige, das viele Menschen interessiert, ausgerechnet der eigene Körper?
Der amerikanische Historiker Christopher Lasch hat schon Ende der 70er Jahre ein Buch geschrieben mit dem Titel "Die Kultur des Narzissmus" geschrieben. Darin beschreibt er, dass sich die Amerikaner nach dem Vietnamkrieg und der Watergate-Affäre von der Politik verraten fühlten und nicht mehr das Gefühl hatten, irgendetwas zum Besseren verändern zu können. Was taten sich also? Sie wandten sich nach innen, um das Einzige zu verändern, über das sie die Kontrolle hatten: ihren Körper. Es ist kein Zufall, dass die Wellness-Bewegung hier ihren Anfang nimmt. Ich denke, dass wir heute in einer sehr ähnlichen Zeit leben. Viele Menschen meiden die Nachrichten, weil sie sich dadurch traurig, wütend oder hilflos fühlen. Da ist es natürlich sehr verführerisch, sich ein Mini-Universum zu erschaffen, in dem alles in Balance gebracht werden kann - sei es durch Meditation oder indem man einen kleinen Garten kultiviert.
Anstatt am großen Ganzen zu scheitern, feiert man im Fitnessstudio Erfolge?
Ich habe für ein neues Projekt vor einiger Zeit mit Crossfit angefangen, eine sehr populäre Sportart in Schweden. Man geht eine Stunde ins Fitnessstudio, trainiert sehr intensiv und wird anschließend von gefühlt hundert Leuten abgeklatscht und kann seine Werte in eine Tabelle eintragen. Einen so unmittelbaren Fortschritt hat man in kaum einem anderen Lebensbereich. Es ist wie in einem Zahnpasta-Werbespot - alle Kurven gehen nach oben.
"Das Wellness-Syndrom. Die Glücksdoktrin und der perfekte Mensch" von Carl Cederström und André Spicer ist in der Edition Tiamat erschienen und kostet ca. 16 Euro.