Buch:Ekkehart Krippendorfs Theatertexte

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(Foto: Verlag Graswurzelrevolution)

Von WILLI WINKLER

Es sollte, meint der Kritiker, es sollte im Theater einen besonderen Preis geben, nämlich für die beste Lösung, die Regie und Schauspieler für den "einleuchtenden Ehebruch" finden, der in den "Wahlverwandten" nicht bloß stattfindet, sondern sichtbar unsichtbar dargestellt werden muss. In Goethes Roman begehen die Eheleute doppelten Ehebruch, weil sie, wenn sie miteinander schlafen, jeweils an einen anderen und eine andere denken. In einer Inszenierung des Berliner Schlossparktheaters wird das "mit den einfachsten Mitteln unmittelbar einleuchtend gezeigt", und der Kritiker würde den Preis sofort dafür vergeben. Der Kritiker ist der vor einem Jahr verstorbene Politikwissenschaftler Ekkehart Krippendorff, seine Rezension stand 2000 in der Süddeutschen Zeitung und sie ist jetzt zusammen mit dreißig weiteren verstreut erschienenen Texten im Verlag Graswurzelrevolution neu herausgekommen ("Über den Tag hinaus. Exemplarische Theaterkritik im herrschaftsfreien Diskurs". Heidelberg 2019. 168 Seiten, 14,90 Euro). Krippendorff war im Berlin der Sechzigerjahre mit seiner Amerika-Erfahrung einer der Anstifter der Studentenrebellion, er blieb ein engagierter Friedensforscher, aber abends musste er ins Theater. Bei der Ankunft in einer fremden Stadt studierte er noch am Bahnhof das Programm und ließ sich vom laufenden Angebot überraschen. Das Theater konnte gar nicht klein genug sein, und Provinz gab es für ihn nicht, aber Goethe und Shakespeare waren ihm doch die liebsten. Beiden hat er gewichtige Studien gewidmet, bei aller analytischen Draufsicht aber nicht den Blick aus dem Parkett auf die Bühne in Cottbus, Dresden oder Kreuzberg verlernt. Was hilft es, meint der Kritiker, ständig die Hände über wieder ein dürftiges Theaterjahr zu ringen, Regieeskapaden und den Autorenmangel zu beklagen, es geht doch darum, wie der Faden der Theatertradition fortzuspinnen sei. "Um diese Frage zu beantworten, muss man in die Keller und Fabriketagen, Kneipen-Hinterzimmer und unter Dachböden steigen." Ekkehart Krippendorff hat es getan und dabei immer wieder Neues im Alten entdeckt.

© SZ vom 02.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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