Bov Bjergs Debüt "Deadline":Der Tod und das Mädchen

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Bov Bjergs Debüt war verschollen, jetzt ist es wieder da. Und schon in "Deadline" war seine Sprache unverstellter und reicher als das meiste in der deutschen Gegenwart.

Von Alex Rühle

Bov Bjerg ist wieder da! "Auerhaus" kennt ja jeder, 300 000 verkaufte Exemplare plus Kinoverfilmung. Mit "Serpentinen" stand Bjerg im vergangenen Jahr dann auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Nun bekommt sein erster Roman eine zweite Chance, aus gutem Grund. "Deadline" war seinerzeit ein fast schon bizarrer Flop, gerade mal 224 Bücher haben sich verkauft, später brannte das Lager mit den Restexemplaren ab. Jetzt legt Gunnar Cynybulk das kleine, sperrige Meisterwerk noch mal auf, schon dafür hat sich die Gründung seines neuen Berliner Kanon-Verlags gelohnt.

Paula ist Übersetzerin, Gebrauchsanleitungen zu Ergometern, Sachtexte über Arthrose, schnödes Handwerkszeug, für das sie mit ihrem immensen Sprachgefühl und einem enzyklopädischen "Merkzwang" eindeutig überqualifiziert ist. Ihr übertrainierter Wortfindungsapparat läuft mit seiner hochtourigen "Beobachtungs-, Benennungs- | Katalogisierungswut" auch im Alltag permanent mit, sie fragt sich bei jedem Geräusch, jedem Anblick im Denkhintergrund automatisch, wie man das am besten in Sprache überführt. Bov Bjerg nutzt für ihre Synonymqualen den senkrechten Strich und macht so von Anfang an den zögerlichen Akt des Schreibens selbst sichtbar: "Die Kutterbugwellen schlugen | droschen | brandeten gegen die Buhne | den Betonsteg, klatschten | platschten | patschten | leckten | plätscherten | läpperten | wisperten."

Diese Paula lebt seit Jahrzehnten in Boston und muss nun zurück in die Heimat, das Grab des Vaters, eines ehemaligen Steinmetzes, ist abgelaufen. Man kommt also mit ihr aus Amerika in die schwäbische Provinz, krähwinkelhaft verhockt, im Elternhaus lebt die Schwester mit ihrer Familie, die Mutter liegt siechend im Krankenhaus. Genau diese Gegend, genau diese kleinbürgerliche Zwangsidylle lieferte auch den Hintergrund der anderen beiden Romane - und genau diese Ähnlichkeit macht erst richtig klar, was für ein großer Autor hier am Werk ist, bildet Bjerg doch jedes mal mit anderen Mitteln, völlig anderem Tonfall dasselbe Katastrophentabu im Leben der Protagonisten ab: "Auerhaus" hatte diesen witzigen, schnellen Ton. Eine improvisierte Jugend-WG versucht Mitte der Achtzigerjahre, heller, leichter, herzlicher miteinander umzugehen als die miefigen Eltern, die selbst nicht wissen, wann ihr Leben zu freudlosem Daseinszement geronnen ist. "Serpentinen" ist dagegen ein bedrückendes Kammerspiel, ein Vater und ein Sohn allein unterwegs auf der Schwäbischen Alb.

Bov Bjerg: Deadline. Roman. Kanon, Berlin 2021. 176 Seiten, 22 Euro. (Foto: N/A)

Tief im Innern der drei Romane aber nistet jedes Mal der Tod, genauer gesagt "der Schwarze Gott" der Depression, wie es in "Serpentinen" heißt, in dem schon auf der ersten Seite klar wird, welchem schrecklichen Familienfluch der Erzähler sich und vor allem seinen Sohn unbedingt entziehen will: "Urgroßvater, Großvater, Vater. Ertränkt, erschossen, erhängt." In "Auerhaus" hat man von Anfang an Angst um den feinsinnigen, depressiven Mitbewohner Frieder. Und auch hier ahnt man bald, dass Paulas diverse Zwangsmuster (Essen, Zahlen, Sprache) eng mit dem Suizid des Vaters zusammenhängen. Die titelgebende "Deadline", die in Paulas gehetztem amerikanischen Arbeitsalltag die gelebte Zeit in immer neue Abgabe-Countdowns verkrüppelt, bekommt spätestens auf dem Friedhof, auf dem Paula hilft, das Grab mit der Vaterleiche auszuheben, einen zweiten und dritten Sinn.

Gräber werden aufgelassen, weil man damit rechnet, dass der Körper nach einem Zeitraum von zehn bis 25 Jahren verwest ist. Bei sogenannten Wachsleichen aber ist dieser Prozess ins Stocken geraten, die Zersetzung ist im Fäulnisstadium abgebrochen, Körperfette verwandeln sich in eine wachsähnliche Schutzschicht. Die hieraus resultierende Szene am offenen Grab, mit Tochter, Friedhofsmitarbeiter und halb verwestem Vaterkörper gehört zum Eindrücklichsten und auf eine sehr verschachtelte, dunkle Art Komischsten, was in der zeitgenössischen Literatur zu finden ist, inklusive schwappendem Grabwasser im Schuh. Dass selbst dieser Moment nicht ins krass Pornöse oder Zombieske kippt, liegt an dem lakonisch-exakten Sprachfilter, den Bjerg dank Paula permanent über die Welt laufen lässt, schließlich weiß sie: "Falsch und ungenau, das war das Gleiche."

Was aber bleibt, wenn man sich alle romantischen Filter abtrainiert hat, wenn alle "Sinnstiftungsreste" und "Illusionsprophylaxen" (Copyright Paula) abgeräumt sind? Die Sprache mit ihren nahezu unendlich reichen Fachvokabularien. Und die Wirklichkeit. Und damit im Grunde alles, man hat ja selbst nur nie wirklich genau genug hingeschaut. So hat die Lektüre von Bov Bjerg einen ähnlichen Effekt wie Bücher von Arno Schmidt oder Wilhelm Genazino. Horch doch mal genau in die Wörter hinein. Und schau die Welt mit frischen Augen an, geradezu irre, wie fremd und still sie dann zurückschaut. Sehr vieles, was sonst so an Texten erscheint, wirkt neben diesem schmalen, aber wildwuchernden Debüt karg und monoton wie eine Magergraswiese.

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