Kunst und Kunsttheorie:Sagenhafte Fähigkeiten

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Was zum Beispiel passiert gerade zwischen Mode und bildender Kunst? Kim Kardashian 2021 auf der New Yorker Met Gala in einem Werk der Designerin Demna Gvasalia. (Foto: John Angelillo/Imago/UPI Photo)

Diese ewige Bereitschaft, Komplexität zuzugestehen: Warum degradiert sich die Kunsttheorie eigentlich so oft freiwillig zum bloßen Dienstleister der Kunst?

Von Jan von Brevern

Im Juni 1966 hielt Theodor W. Adorno in der Westberliner Akademie der Künste einen Vortrag mit dem Titel "Die Kunst und die Künste". Die einzelnen Künste, so Adorno, gingen zunehmend ineinander über, "verfransten" sich: Die Skulptur gerate in Bewegung, die Malerei werde räumlich, in der Musik neige die Komposition zu malerischen Verfahren. Woher kam diese unübersehbare Tendenz zur Grenzüberschreitung? Adorno vermutete historische Kräfte am Werk, die aus den Kunstgattungen selbst kamen.

Seit sich im 18. Jahrhundert der neue Kollektivsingular "Kunst" etabliert hatte, standen die einzelnen Künste in verschärftem Konkurrenzverhältnis zueinander. Zugleich gab es aber immer wieder Versuche, das Verhältnis von Kunst und Künsten neu zu bestimmen, das Gemeinsame der "Kunst" zu betonen. Berühmt die Versuche der Romantiker, eine alle ästhetischen Äußerungen umfassende Universalpoesie zu begründen. Auch Richard Wagners "Gesamtkunstwerk" war ein Versuch, die als vereinzelt wahrgenommenen Künste zu vereinen - diesmal unter der Schirmherrschaft der Musik, die zwischenzeitlich zur Leitgattung aufgestiegen war.

Adornos Sätze zum Thema haben auch nach 60 Jahren ihren Witz behalten, selbst wenn man sie nicht alle für richtig hält

Gegen solche Vorstellungen von eher auseinanderdriftenden Künsten, die quasi per Dekret zusammenzuführen seien, setzte Adorno hundert Jahre später seine These von den "immanenten Motivationen" der Gattungen zur Verfransung - und postuliert damit einen zwangsläufigen historischen Prozess, der in der Struktur der Künste begründet liege: "Was die Grenzpfähle der Gattungen einreißt, wird bewegt von geschichtlichen Kräften, die innerhalb der Grenzen aufwachten und schließlich sie überfluten." Adornos Vortrag ist der gedankliche Ausgangspunkt eines neuen Sammelbandes, der das Verhältnis der Kunstgattungen untereinander erkunden will, zugleich aber den Anspruch hat, ein "Kompendium zur Kunsttheorie der Gegenwart" zu sein.

Beim heutigen Lesen von Adornos Vortragstext fallen einem die zahlreichen scharfen Wendungen und Aphorismen auf, die auch nach 60 Jahren ihren Witz behalten haben, auch, wenn man sie nicht alle für richtig halten mag. Es fällt allerdings auch auf, dass die Frage nach dem Verhältnis der Kunst zu den Künsten in dieser abstrakten Form doch einiges an Brisanz verloren hat. Die Problemstellung, die da verhandelt wird, erscheint fast altbacken; höchstens in den Folterkammern der analytischen Philosophie dürften heute noch Studenten gezwungen werden, die in der Einleitung des Bandes herausgearbeiteten "vier Positionen der Theorien der Unterschiedenheit der Künste" zu deklinieren, diese mit den "fünf Theorietypen der Einheit der Künste" abzugleichen, um alsdann daraus brav-dialektisch "Theorien der Verschränkung von Einheit und Unterschiedenheit der Künste" zu synthetisieren.

Georg W. Bertram, Stefan Deines und Daniel Martin Feige (Hrsg.): Die Kunst und die Künste. Ein Kompendium zur Kunsttheorie der Gegenwart. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 512 Seiten, 28 Euro. (Foto: N/A)

An der Qualität einzelner Beiträge liegt es jedenfalls nicht, dass der Funke nicht so recht überspringt. Die Texte etwa von Herta Wolf zur Fotografie, Michael Lüthy zur Malerei oder Gertrud Koch zum Film stammen nicht nur von ausgewiesenen Experten ihres Fachs, sie bieten tatsächlich auch einen gelungenen Einstieg in aktuelle Diskussionen.

Anderen Texten hingegen ist ein altes Problem der Kunsttheorie anzumerken: Allzu oft ist sie eine Apologetin der Kunst, immer bereit, ihren Gegenstand mit Komplexität auszustatten und zu nobilitieren. So wird Immersion im Beitrag von Doris Kolesch zur "analytischen Sonde, um eine Gleichzeitigkeit, eine Verwobenheit und Interdependenz von Nähe und Distanz, von Ich und Welt, Subjekt und Objekt, Produzierenden und Produkt einzufangen". Mehr noch: "Was hier, wie in einem Brennglas, zum Vorschein kommt, ist die Mensch-Umwelt-Relation in einer 'posthumanen Situation', in der sich die Frage nach dem Menschen in neuer Form stellt, nämlich dezentriert und verwoben, relational zu menschlichen ebenso wie nichtmenschlichen Akteur*innen, zu Tieren, Pflanzen, Viren und Bakterien, aber auch Dingen und Objekten, zu belebter und unbelebter Materie."

Viren und Bakterien dürften nicht die Einzigen sein, die über die sagenhaften Fähigkeiten der Immersionskunst staunen. "Diskursive Klingeltöne" hat Jürgen Kaube das mal genannt. Warum sich die Theorie eigentlich so gerne zum Dienstleister der Kunst macht, wäre glatt mal einen eigenen Sammelband wert.

Hilft der alte Avantgarde-Begriff noch dabei, die Verfransungsprozesse der Kunst der Gegenwart zu fassen zu kriegen?

Eigentlich ist das Thema der Gattungen und Genres, ihrer Persistenz, ihres Verschwimmens und Verschwindens - und meinetwegen auch ihrer "Interdependenzen" - hochaktuell. Der 2020 ebenfalls bei Suhrkamp erschienene Band zur "Gattungstheorie", herausgegeben von Paul Keckeis und Werner Michler, hat das Potenzial einer Beschäftigung mit Gattungen noch einmal deutlich gemacht. Das gelingt ihm, weil er sich traut, aus den Nischen der Hochkunst heraustreten. "Die Kunst und die Künste" bleibt hingegen viel zu sehr der alten Idee der Avantgarde verpflichtet, um die spannendsten Verfransungsprozesse der Gegenwart in den Blick zu bekommen.

Was zum Beispiel passiert gerade zwischen Mode und bildender Kunst? Und wäre es nicht lohnend, sich die neuen Distributions- und Konsumformen von Kultur unter digitalen Bedingungen anzusehen? Spotify und Co., um nur ein besonders naheliegendes Beispiel zu nennen, verändern radikal, was Musik ist, wie sie gehört wird und wie mit Genregrenzen umgegangen wird. Das hat enorme (auch soziale) Konsequenzen, für die sich eine gute Kunsttheorie interessieren sollte. Der einzige Text im Band aber, der sich explizit mit den Auswirkungen des Digitalen beschäftigt - Dominic McIver Lopes' "Digitale Kunst" - stammt von 2003 und ist damit selbst schon ein historisches Dokument. Auch Christian Grüny geht in seinem ansonsten lesenswerten Beitrag zur "komplizierten Lage der Musik" zwar auf die Popmusik ein, aber nur in Hinblick darauf, ob sie denn nun "Kunst" sei oder nicht. Hier zeigt sich, wie sehr die einzelnen Beiträge zuweilen unter dem thematischen Korsett leiden, dessen Hauptverdienst letztlich vor allem ist, dass man nach der Lektüre genauer weiß, welche Sammelbände gerade wirklich fehlen.

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