Berlinale - Kulinarisches Kino:Auge in Auge mit der Garnele

Lesezeit: 4 min

Eine Netflix-Serie zeigt, wie Tim Raue vom prügelnden Straßenjungen zum Sternekoch wurde. Auf der Berlinale kann man sein Essen nach dem Film probieren.

Von Ruth Schneeberger, Berlin

Der beliebteste Chef ist Tim Raue sicher nicht. "Nicht nachdenken - nur machen, was man Ihnen sagt!", zischt er seinen Koch an. Oder auch: "Beweg' deinen verfickten Arsch!" So spricht er mit einer Kellnerin. Die preisgekrönte Jungregisseurin Abigail Fuller hat das für Netflix genau verfolgt und filmte jeden Verbalausfall des Berliner Sternekochs mit Genuss. Denn Raue ist stolz auf sein überdimensioniertes Ego.

Das schöne an der Netflix-Episode von "Chef's Table" über Tim Raue ist, dass sie nicht an der Oberfläche bleibt. In der Emmy-nominierten US-Serie werden Chefköche aus der ganzen Welt in einstündigen Episoden vorgestellt - genügend Zeit, um sie den Zuschauern sehr nahe zu bringen. Dabei geht es keinesfalls um Küchenrezepte oder den Alltag eines Sternekochs. "Ich will nicht zeigen, was sie kochen, sondern warum", erklärt in Berlin der Erfinder der Serie, David Gelb, der außerdem die buddhistische Nonne Jeong Kwan portraitiert hat, die ebenfalls als Meisterin der Nahrungszubereitung gilt - in Korea.

Das Schöne wiederum an der Berlinale ist, dass sie all das zusammenbringt: Den Egozentriker Raue mit seinem schicken Berlin-Mitte-Restaurant, wo er über jeden Teelöffel die totale Kontrolle hat. Und die in sich ruhende Nonne Kwan mit dem kahlrasierten Kopf, die nicht an das Ego glaubt und in ihrem wilden Garten in Korea jede Pflanze so wachsen lässt, wie sie will. Die Veranstaltungsreihe "Kulinarisches Kino" zeigt in diesem Jahr unter anderem die Netflix-Episoden über diese beiden Menschen, die unterschiedlicher kaum sein könnten, Yin und Yang. Und tischt dann auch noch das Essen der bemerkenswerten Köche auf. Zu probieren war es am Dienstagabend im Spiegelzelt am Martin-Gropius-Bau, nachdem die beiden Filme dem essensbegeisterten Publikum gezeigt wurden.

Wie Yin und Yang: Während Tim Raue sich so rau gibt wie Berlins Wetter im Februar, ist die buddhistische Nonne Jeong Kwan die Zurückhaltung in Person. Das wirkt sich auch auf ihr Essen aus. Beide zusammen sind an diesem Abend ein gutes Team. (Foto: Se young. Oh. /Netflix)

Sojasoße ist der kochenden Nonne Kwan heilig

Leider kocht die Koreanerin an diesem Abend nicht selbst für die Gäste, dafür aber Raue umso mehr. Als ausgewiesener Kenner der asiatischen Küche widmet er ihr sogar zwei der fünf Gänge: "Erleuchtendes Weiß" ist zwar nur ein Tee, aber immerhin ein guter. "Gemüsegarten" sieht aus wie ein Gericht aus dem Film: Bunt gefärbte Lotus-Scheiben und das berühmte koreanische Kim Chi vereinen sich mit Kürbispüree und einem großartigen Spinat mit Sesamöl-Sojasauce zu einem kleinen Gedicht über gesunde Pflanzennahrung. Man weiß nach dem ersten Bissen sofort, was Jeong Kwan meint, wenn sie im Film darüber spricht, dass ihr Sojasauce heilig ist und wieso das Essen für die buddhistischen Mönche nicht nur den Körper nährt, sondern auch den Geist beruhigt: Nichts daran stört Körper oder Karma, denn alles ist vegan und wohlüberlegt.

Aber wie sieht es mit Tim Raues Eigenkreationen aus? Im Film berichtet er davon, dass er seine Restaurantbesucher und Kritiker gern provoziert. Weil ihn als Straßenjungen nach seiner Ausbildung keine der feinen Berliner Sterneküchen als Koch haben wollte, hat er seine sehr eigene Küche erschaffen, die weit weg von ausbalancierter französischer Gourmetküche am liebsten mit Extremen spielt und sich an keinerlei Regeln hält: Seine asiatisch angehauchte Spezialgarnele etwa sei wie ein "Schlag ins Gesicht".

Es gibt diese Garnele an diesem Abend auch, und sie ist dann doch weniger zum Fürchten als einfach sehr lecker. Kross frittiert und mit einer sogar halbwegs milden Wasabi-Sauce ummantelt, ist die Raue-Garnele kein Bürgerschreck, sondern ein schmackhafter dritter Gang. Was dann aber folgt, ist doch aufregend: Kabeljau (schön zart) in einer Topinambur-Rahmsauce auf Wasserkastanien, Haselnuss, Rosinen - und mit sehr viel Chili. Letzteres bläst einem tatsächlich fast den Schädel weg, ganz wie der Sternekoch es mag. Seine Vorliebe für den asiatisch angehauchten Mix von Fisch, süß, scharf und knusprig bewahrt das Gericht aber davor, ins Extrem zu verfallen. Am Ende ist doch alles schön ausbalanciert.

Der fünfte Gang, zart gefüllte Schokonuggets, versöhnt dann auch den empfindlichen Gaumen wieder. Zumal ein extrem süffiger Riesling dazu gereicht wird. Das zahlende Publikum im Spiegelzelt (pro Person kostet das 5-Gänge-Menü inklusive Filmvorführung 90 Euro, dafür gibt es aber auch ein Pläuschchen mit dem Chefkoch dazu, die Events der Reihe sind meist lange vorher ausgebucht) fühlt sich bestens unterhalten und halbwegs satt.

Mit seiner Jugendgang suchte Raue früher nach Opfern

Berlinale-Prominenz
:Wenigstens deutsche Sternchen kommen noch zur Berlinale

Ansonsten wäre der rote Teppich in Berlin gerade ziemlich leer. Dafür gibt es hier einen neuen Trend: im Blitzlichtgewitter tüchtig busseln.

Von Ruth Schneeberger, Berlin

In dem Film hat Tim Raue Gelegenheit, sehr viel über sich selbst zu erzählen, was ihm sichtlich gefällt. Er spricht aber weniger über seine Erfolge als über den beschwerlichen Weg dahin. Denn Raue ist in Kreuzberg aufgewachsen. Dem US-Publikum muss Netflix noch erklären, dass das zu DDR-Zeiten und vor allem danach ein erst sehr armer und dann sehr wilder Stadtteil Berlins war, nicht halb so beschaulich wie heute. Raue erzählt von einer schwierigen Kindheit bei seiner "intellektuell limitierten" Mutter und der noch viel schwierigeren Jugend bei seinem arbeitslos gewordenen Vater, der ihn regelmäßig blutig prügelte. Und dann noch von der Zeit danach, als er selbst das Prügeln anfing, auf der Straße. Mit seiner Jugendgang suchte er ständig nach Opfern, die er kleinmachen konnte, um sich selbst besser zu fühlen. Wie so viele Opfer von Gewalt wurde er selbst zum Täter.

Das hat er nun nicht mehr nötig. Nach seinem Gewaltmarsch erst durch die Straßen Kreuzbergs und dann durch die Restaurants der Hauptstadt scheint er mit seiner Neuerfindung der Berliner Sterneküche zufrieden und ausgelastet zu sein. Am Ende des Films ist er selbst verblüfft über seinen Werdegang: "Wenn ich morgens in mein Restaurant gehe, ist das der schönste Moment für mich. Weil ich sehe, wie ich diese schlechte Energie, die ich in mir habe, in etwas Schönes verwandeln kann."

Weitere Infos über die dritte Staffel der Serie "Chef's Table" und über die Reihe Kulinarisches Kino auf der Berlinale gibt es hier.

© SZ.de/rus - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: