Bénédicte Savoys Buch "Afrikas Kampf um seine Kunst":Triumph der gezielten Lügen

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Strategische Entmutigung und blanke Ignoranz: Benin-Objekte in einer Ausstellung im Leipziger Grassi-Museum. (Foto: dpa)

Die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy hat den koordinieren Abwehrkampf Europas gegen die Rückgabe geraubter afrikanischer Kunst rekonstruiert.

Von Till Briegleb

Fragt man verantwortliche Personen in Museen und der Politik, die sich mit der hitzigen Debatte über den Kolonialismus und die Rückgabe des Kulturguts an die einst besetzten Länder befassen, warum das Thema plötzlich so präsent ist, erhält man meist eher hilflose Antworten. Eigentlich nie sagen die Angesprochenen aber etwas zu der historischen Kontinuität der aktuellen Diskussion. Selbst Direktorinnen und Direktoren von ethnologischen Museen oder von Kunstsammlungen, die alt genug sind, um es besser zu wissen, zeigten sich in den vergangenen Jahren überrascht von der Heftigkeit der Debatte.

Zwar haben nicht alle von ihnen vergessen, dass in den Jahren rund um die Proteste von 1968 der Kolonialismus zentraler Gegenstand intellektueller Debatten war, dass Frantz Fanon diskutiert wurde, Che Guevara, Patrice Lumumba oder wie Kolonialismus zum Indochina- und Vietnamkrieg führte. Aber dass exakt die gleiche Debatte über geraubte Kulturgüter, über Restitution und Verantwortlichkeiten, die seit ein paar Jahren vor allem die ehemaligen "Völkerkunde"-Museen intensiv ergreift, von den Sechzigern an bereits global geführt worden ist, scheint versunken in kultureller Amnesie.

"Bleimantel des Schweigens" nennt Bénédicte Savoy in ihrem neuen Buch "Afrikas Kampf um seine Kunst - Geschichte einer postkolonialen Niederlage" die Taktik westlicher Museumsleiter, mit der diese die erste Debatte um Restitution geraubter Kulturgüter nicht nur beendeten, sondern sogar aus dem kulturellen Gedächtnis tilgen konnten. Ab dem sogenannten "Afrikanischen Jahr" 1960, als 17 ehemalige Kolonien ihre Unabhängigkeit erlangten, gab es klar formulierte, wenn auch häufig erstaunlich höflich vorgetragene Bitten der neuen Nationen an die ehemaligen Kolonialherren, die wichtigsten Objekte ihrer Kultur wenigstens als Dauerleihgaben zurückzuerhalten. Die Reaktion der Angesprochenen war durchweg beschämend und eine unmittelbare Fortsetzung imperialer Arroganz.

Besonders die deutsche Verweigerungspolitik hatte Züge einer Verschwörung

Savoy, die 2018 gemeinsam mit Felwin Sarr durch ihren Bericht an den französischen Präsidenten Macron, "Rapport sur la restitution du patrimoine culturel africain" (Bericht über die Restitution afrikanischer Kulturgüter), die aktuelle Debatte maßgeblich mit wiederbelebt hat , ruft nun die erste Epoche des Konflikts in einem kommentierenden Ereignisprotokoll wieder in Erinnerung. Für die Jahre 1965 bis 1985, also ab dem Zeitpunkt, wo die internationale Debatte Fahrt aufnahm, bis zu dem Punkt, als die Blockadehaltung europäischer Museen die Restitutionsanliegen aus Afrika und Asien mit gezielter Frustration zum Verstummen brachte, rekonstruiert sie haarklein den koordinierten Abwehrkampf europäischer Direktoren gegen jedes Entgegenkommen.

Speziell in Deutschland nahm diese Verweigerungspolitik die Züge einer Verschwörung an. Eine Gruppe geheim agierender Sammlungsleiter und Politiker taten alles bis zum gezielten Lügen, damit der deutsche Sesam der Raubkunst sich keinen Spalt öffnen musste. Wenig überraschend hatten die meisten dieser Kulturbeamten ihre Karriere aus dem Dritten Reich in der BRD lückenlos fortführen können - etwa der damalige Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Hans-­Georg Wormit, der Direktor des Linden-­Museums in Stuttgart, Friedrich Kußmaul, der Präsident des deutschen Nationalkomitees des Internationalen Museumsrates ICOM, Hermann Auer, oder der Leiter des Bereichs "Kulturpflege" im Bundesinnenministerium, Carl Gussone.

Bénédicte Savoy: Afrikas Kampf um seine Kunst - Geschichte einer postkolonialen Niederlage. C.H. Beck Verlag, München 2021. 256 Seiten, 24 Euro. (Foto: N/A)

Dabei glichen die Argumente, die dieser sinistre Herrenklub in seitenlangen ablehnenden Stellungsnahmen zusammentrug, frappant jenen Einwänden, die auch heute wieder vorgebracht werden, wenn es um die Rückgabe von Objekten geht, die ohne Zustimmung der Herkunftsländer in europäischen Museen gelandet sind. Sie seien nationales Kulturgut (der besitzenden Länder natürlich, nicht etwa der bestohlenen). Es sei rechtlich nicht möglich, diesen Besitz zu veräußern, und man dürfe keinen Präzedenzfall schaffen, weil dann sofort Anspruch auf alles erhoben würde. Das sei eine "Gefährdung bedeutender, in langjähriger mühevoller Arbeit zusammengetragener Sammlungen", die zum "Totalverlust" führen könne, wie es die Hüter des kolonialen Diebesguts in ihren scharfen Expertisen für die Politik als Szenario verbreiteten.

Weiter behaupteten Museumsleiter in ganz Europa, es gäbe in den Herkunftsländern keine adäquaten Institutionen, die das Kulturgut sicher verwahren und ausstellen könnten (wobei der Gang durch viele europäische Depots der ethnologischen Museen noch heute die Frage aufwirft, ob das hier jemals der Fall war). Pauschal wurden die Länder des afrikanischen Kontinents zudem der Korruption und krimineller Machenschaften bezichtigt, durch die alle zurückgegebenen Objekte sofort auf dem europäischen Kunstmarkt verhökert würden. Außerdem könnten Provenienzen sowieso nicht zweifelsfrei bestimmt werden, und überhaupt seien alle Objekte legal auf dem Kunstmarkt erworben oder durch Schenkungen in die Sammlungen gekommen.

Die meisten dieser Argumente konnten schon damals nur in peinlicher Unkenntnis der eigenen Bestände oder mit bewusster Tatsachenverdrehung aufrechterhalten werden. Besonders perfide wurde die Argumentation des Direktorenkreises aber, wenn sie forsch erklärten, dass sie dank akribischer wissenschaftlicher Sammeltätigkeit viele kulturelle Zeugnisse in den europäischen Kolonien "gerettet" hätten, die in den Ursprungsländern doch sowieso als "wertlos" galten. Friedrich Kußmaul, der engagierteste der Blockierer, konnte deswegen kategorisch und recht unwidersprochen erklären, "dass eine moralische Verpflichtung zur Rückgabe nicht existiert".

Eine umfassende seriöse Inventarisierung der europäischen Museen gibt es bis heute nicht

Nun ist diese moralische Verpflichtung anders als vor 40 Jahren heute sicherlich allgemeiner akzeptiert, eine neue Generation in den Museen (darunter endlich auch viele Frauen) sogar aktiv damit beschäftigt, mit ihren Kolleginnen und Kollegen in den Herkunftsländern einvernehmliche Lösungen zu finden, wie Objekte sowohl in ihren ursprünglichen Kulturen als auch in den Museen der Welt zur Geltung kommen können. Aber abgesehen von den immer noch bestehenden rechtlichen Hindernissen, die sich seit der Nachkriegszeit kaum geändert haben, bleiben bestimmte fatale Konsequenzen der damaligen "Verschwörung" bis heute virulent.

Das betrifft vor allem, wie Savoy dezidiert aus dem geheimen Schriftverkehr der Abwehrexperten nachweist, die Frage der Transparenz, die von den Politikern und Intellektuellen der selbständigen Staaten Afrikas und Asiens seit den Sechzigern gefordert wurde. Um bloß niemandem Material zugänglich zu machen, was sich in den Depots der europäischen Museen tatsächlich an Werten aus anderen Ländern befindet, wurde nicht nur die Veröffentlichung möglicher Listen hintertrieben. Schon eine seriöse Inventarisierung unterblieb, um keine "Gelüste" irgendwo zu wecken. Mit dem Resultat, dass auch heute noch einige der größten Institutionen, die sich mit Weltkultur befassen, nicht öffentlich präsent machen können, was sich in ihren Regalen alles stapelt.

Savoy, Professorin für Kunst- und Kulturgeschichte in Berlin und Paris, betrachtet in ihrer Chronologie aber nicht nur die besonders verstockte deutsche Haltung. Sie zeigt vielmehr, wie selbst bei größerer Kompromissbereitschaft in manchen der europäischen Länder mit kolonialer Vergangenheit die Denkweise in diesen angeblichen Kulturnationen relativ einheitlich rassistisch blieb. Wenn es darum ging, den von ihnen geplünderten Staaten mit Respekt zu begegnen und ihre Ansprüche an Restitution mit Fairness zu beantworten, versagte jedes europäische Land, ob England, Frankreich oder Belgien. Und speziell versagten damals fast alle für das Thema zuständigen Herren und Damen in den Kulturinstitutionen.

Die Anerkennung der begangenen Kolonialverbrechen als Voraussetzung einer gerechten Verständigung, so Savoys Ergebnis, wurde damals von allen Museen verweigert, selbst, wenn einmal etwas gnädig zurückging. Stattdessen folgten die Leiter großer Institutionen fast durchgängig dem Reflex der Besitzstandswahrung. Sie versuchten, das Thema auszusitzen, oder traten sogar mit größter Borniertheit und der dreisten Behauptung auf, nur ihre Institutionen könnten den Wert dieser Objekte richtig bemessen und einem großen internationalen Publikum als bedeutendes Kulturgut vermitteln.

Die wichtige Recherche Savoys liefert vielleicht auch eine Antwort darauf, warum die Debatte heute so emotional geführt wird. Es sind alte Wunden, die wieder aufreißen. Die Entdeckung, dass die berechtigen Anliegen, gewaltsam entwendetes oder durch asymmetrische Machtverhältnisse angeeignetes Kulturgut zurückzuerhalten, über Jahrzehnte systematisch mit Lügen, Schweigen, strategischer Entmutigung und blanker Ignoranz beantwortet wurden, muss schmerzen. Und sie führt sicher nicht zu mehr Vertrauen in die Nachfolger und Nachfolgerinnen an den Museen. Zumal, wenn sich die nicht ausdrücklich zur Rückgabe bekennen. Nach diesem Buch ist jedenfalls Unwissen keine Entschuldigung mehr.

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