Ausstellung:Linien, die die Welt erklären

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In der amüsanten Schau "Bauhaus, Kunst und Infografik" im Ingolstädter Museum für Konkrete Kunst setzen sich Künstler auf ebenso subversive wie ironische Weise mit Diagrammen auseinander

Von Sabine Reithmaier

Kohlenutzung in England, Pferdegeburten in Deutschland und Taubenproduktion in Frankreich in den Jahren zwischen 1961 bis 2016 haben auf Anhieb nichts miteinander gemein. Es sei denn, diese Statistiken fallen dem Künstler Nick Koppenhagen in die Hände. Er kombiniert diese Daten nämlich mithilfe von Liniendiagrammen und entwickelt in ästhetisch reizvollen Pinsel-Guachen neue Beziehungen zwischen den Kurven. Wobei: Den Pinsel führt nicht der Maler selbst, sondern eine vom Computer gesteuerte Werkzeugmaschine.

Nicht alle Künstler der Ausstellung im Ingolstädter Museum für Konkrete Kunst (MKK) setzen Diagramme so ironisch und subversiv ein wie der 1987 in Hamburg geborene Koppenhagen. Trotzdem ist der Rundgang durch die "Gemalten Diagramme" über weite Strecken sehr vergnüglich, weil die Kuratorinnen Simone Schimpf und Theres Rohde auf eine ebenso amüsante wie informative Weise der Wechselwirkung zwischen allgegenwärtiger Infografik und bildender Kunst nachspüren. Kein Wunder, dass die außergewöhnliche, aus vielerlei Perspektiven gestaltete Präsentation in Ingolstadt zu den 23 Projekten in Deutschland zählt, die die Kulturstiftung des Bundes in diesem Jahr aus dem Fonds "Bauhaus heute" fördert.

Im Gegensatz zu Nick Koppenhagen hat Margaret Camilla Leiteritz (1907-1976) ihre Diagramme übrigens eigenhändig gemalt. Ihre wenig bekannten Arbeiten bilden den Einstieg in die Ausstellung, deren Ausgangspunkt natürlich das Bauhaus ist. Walter Gropius bezeichnete zwar sein berühmtes Kreisdiagramm, in das er den Verlauf der Lehre am Bauhaus packte, noch als "graphischen Plan". Aber das Wissen um Proportionen und Relationen, Farb- und Formgesetze, das Wassily Kandinsky, Paul Klee oder Johannes Itten dort lehrten, beeinflusste ganze Generationen von Gestaltern. Leiteritz, die dort studierte und später als Bibliothekarin an der TU in Karlsruhe viel mit Diagrammen arbeitete, übertrug manche der Grafiken, die sie in Proportionen und Verlauf interessierten, in freie Arbeiten wie die hinreißende "Kreuzung am linken Rand" (1966).

Stärker mit der Visualisierung von Informationen als das Bauhaus beschäftigt hat sich das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum in Wien. Gemeinsam mit dem Künstler Gerd Arntz entwickelte Otto Neurath dort von 1925 an die "Wiener Methode der Bildstatistik" und visualisierte eigentlich alles: Die Heeresstärken in der Antike, die Wohndichte in Großstädten der Neuzeit, die Regierungsformen in Europa - anhand des 1930 veröffentlichten bildstatischen Atlas "Gesellschaft und Wirtschaft" lässt sich bis heute gut ablesen, wie die Welt damals aus der Sicht eines weißen Europäers aussah.

Die Regel, wonach eine Infografik eindeutig sein soll, müssen Künstler zum Glück nicht befolgen. Hartmut Böhms Zinklithografie "Ohne Titel" sieht zwar aus wie eine Sitzverteilung in einem Parlament, aber weil nicht erkennbar ist, welcher Ordnung das Muster folgt, ist der Betrachter sofort versucht, das Bild im Kopf zu vervollständigen. Maja Bajevic lässt Aktienkurse globaler Handelsgüter auf Baumwollstoffe sticken. Eine doppeldeutige Angelegenheit: Sticken kostet viel Zeit, genau das, was man an der Börse nicht hat. Bis die Bilder fertig sind, haben sich die Kurse längst verändert.

Jorinde Voigt listet in "Collective Time" die jeweils erfolgreichsten Filme eines Genres auf: ein Säulendiagramm aus drei Meter langen Aluminiumstangen, das eine ganze Wand einnimmt. Die schwarzen Markierungen entsprechen den jeweiligen Filmlängen. Sofort neigt man dazu, die längeren für die wichtigeren zu halten. Erst wer nahe herantritt und den Filmtitel liest, kapiert, dass er ganz irrelevanten Informationen aufgesessen ist.

Voigt, 1977 in Frankfurt am Main geboren, in Berlin lebend und an der Münchner Akademie unterrichtend, ist auch mit konzeptuellen Zeichnungen auf Papier vertreten, die sie "Notationen" und "Partituren" nennt; sie zerlegt Musik in Kurven, Geraden, Striche, Parallellinien, integriert Zahlen und Wörter, kreiert damit nach ihren eigenen Regeln eine Ordnung und Auflösung, Beschleunigung, Verzögerung, Intensität. Um die Abbildung von hochkomplexen, realen Strukturen handelt es bei den feinen Bleistiftzeichnungen von Mark Lombardi (1951-2000). Der Amerikaner, dessen Selbstmord Anlass zu vielerlei Spekulationen bot, macht die unsichtbaren Verknüpfungen zwischen Politik, Wirtschaft und Terrorismus in seinen Diagrammen transparent, etwa die Verbindung von George W. Bush zum Erdölgeschäft. Irgendwann interessierte sich sogar der Geheimdienst für seine Diagramme.

Pure Poesie sind Nick Koppenhagens Witterungsreporte, akribisch gezeichnete Tortendiagramme mit 365 Segmenten, in die der Künstler täglich in einem eigenen Farbtonsystem Natur-, Wetter- und Lichtphänomene eingetragen hat, ergänzt durch stimmungsabhängige Kommentare. "Kein Schnee, aber sonst", steht da oder "Nebel sehr Herbst". Grandiose Jahreskreise, die man gern stundenlang entziffert.

Katja Berlin, bekannt durch ihre Tortendiagramme in der Zeit, hat übrigens eigens für das MKK neue Diagramme erstellt und endlich die Frage geklärt, wie sich die Schnittmenge zwischen "Das kann ich auch" und "Das verstehe ich nicht?" nennt: Konkrete Kunst. Gemalte Diagramme.

Bauhaus, Kunst und Infografik ; Museum für Konkrete Kunst Ingolstadt. Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen, bis 29. September

© SZ vom 04.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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