Ausstellung:Große Freiheit in Neapel

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Die spektakulären Sammlungen im Palazzo Zevallos Stigliano belegen, dass und wie die barocke italienische Stadt mit ganz Europa verflochten war.

Von Thomas Steinfeld

Alfred von Reumont, ein preußischer Legationsrat in Rom und einer der frühen deutschen Kunsthistoriker, schrieb 1851 eine Geschichte Neapels im 17. Jahrhundert. Damals hatte Süditalien, mit Neapel als Hauptstadt, unter spanischer Herrschaft gestanden, was sich für Alfred von Reumont, wie für viele Gelehrte vor und nach ihm, mit einer Vorstellung von einem geringeren politischen, moralischen und auch kulturellen Wert verband. Ihr wurde auch der Maler Caravaggio unterworfen, obwohl er aus Mailand stammte und seine ersten Erfolge in Rom hatte: Dessen Vorliebe für das Schreckliche und Blutige, so Alfred von Reumont, verrate einen spanischen Einfluss, wie überhaupt die Kunst Caravaggios von der harten und melancholischen Natur des Spaniers geprägt sei. Dass der Autor sich, in der Kunst wie im Leben, mit den niederen Klassen abgab, musste sein Werk darüber hinaus verwerflich erscheinen lassen. Dabei hatte Caravaggio insgesamt kaum mehr als zwei Jahre seines kurzen Lebens in Neapel verbracht.

Im Palazzo Zevallos Stigliano in Neapel, einem Gebäude an der Via Toledo, das lange ein prächtiger Adelssitz gewesen war und im ausgehenden 19. Jahrhundert in eine Bank verwandelt wurde (wobei der Innenhof die Gestalt einer prächtigen Schalterhalle annahm), hängt das letzte Gemälde, das Caravaggio malte: das "Martyrium der heiligen Ursula" (1610). Es bildet gegenwärtig den Fluchtpunkt einer Ausstellung, der ein anderer, eigener Zweck gesetzt ist, die aber auch etwas mit den moralischen und kulturellen Vorurteilen gegen das Spanische in Neapel zu tun hat: Denn gezeigt wird, als Resultat einer großen Anstrengung der Rekonstruktion, die Kunstsammlung, die Jan Vandeneynden, ein um das Jahr 1611 aus Antwerpen nach Neapel gezogener Kaufmann und Bankier, in diesem Palast zusammengetragen hatte und die von seinem Sohn Ferdinand weitergeführt worden war. Dieser Mann war also von einer der reichsten Städte des spanischen Imperiums in eine andere reiche Stadt desselben Reichs übergesiedelt. Aus Antwerpen hatte er, wie auch andere flämische, nun aber in Neapel ansässige Kaufleute (allen voran der mit Jan Vandeneynden verbündete Gaspar de Roomer), ausgezeichnete und zum Teil sogar familiäre Verbindungen zu den dort heimischen Künstlern und Kunsthändlern mitgebracht, etwa zu den Brueghels oder zu den Familien de Wael und de Jode.

Peter Paul Rubens' "Fest des Herodes" (um 1635), eine schreckliche Szene, in der Salome ihrem entsetzten Vater den abgeschnittenen grauen Kopf des Täufers serviert, während seine Gattin mit der Gabel in die Zunge des Toten piekst, ist vermutlich das wichtigste der Gemälde, die jetzt nach Neapel zurückkehrten. Drei Dutzend sind es insgesamt, jedes ist für sich sehenswert. Miteinander erzählen sie aber auch eine Geschichte: Denn dass diese Sammlung die engen Beziehungen spiegelt, die im 17. Jahrhundert zwischen den spanischen Besitztümern in Flandern und in Süditalien bestanden, ist nur eine Selbstverständlichkeit. Dass sie, vor allem durch die Begegnung süditalienischer Künstler mit flämischer Malerei, einen erheblichen Einfluss auf die Entwicklung des neapolitanischen Barocks ausübte, wird ebenfalls offenbar - in Mattia Pretis "Fest des Herodes" (um 1655) zeigt sich, welch ein Vorbild Rubens geschaffen hatte. Darüber hinaus aber reflektiert die Sammlung auch das Neapel des 17. Jahrhunderts, am deutlichsten in einem Bildnis des "betrunkenen Silenos" von Jusepe de Ribera (1626). Er malte einen dicken, nackten Silenos, wie er sich nachschenken lässt, während ein offenbar gar nicht freundlicher Pan den Zecher mit Weinlaub bekränzt.

Dieser fette Sack dürfte als Allegorie der Stadt Neapel gemeint sein, wobei die Vermutung gestützt wird durch die Signatur in Gestalt eines Zettels, der im linken unteren Winkel des Bildes von einer Schlange zerrissen wird. Auf dem Blatt wird nicht nur der Name des Künstlers genannt, sondern auch seine Stadt (mit ihrem griechischen Namen "Parthenope"). Neapel tritt hier, neben dem Künstler, als Urheberin des Werkes auf, und sie tut es um so mehr, als sie mit dem Zettel auch die Illusion des Bildes zerstört.

Neapel war im 17. Jahrhundert, nach Konstantinopel, die größte Stadt Europas gewesen: ein Moloch von etwa 300 000 Einwohnern, der um den Hof des Vizekönigs herum mit Handel und erstaunlich avancierten Geldgeschäften gewachsen war, also selbst nichts unmittelbar Nützliches produzierte. Aber die Metropole war, für jene Zeit, modern geworden: mit gepflasterten Straßen, einer effizienten Wasserversorgung, einem Krankenhaus. Die Vizekönige hatten, um den neuen Palast herum, ein belebtes Zentrum entstehen lassen, mit der Via Toledo als Achse. Die ganze Stadt war, entlang der Küste, nach Westen gerückt. Von dieser Modernität blieb in der Wahrnehmung der später Geborenen wenig übrig, und das gilt nicht erst für die Gegenwart, sondern auch schon für das 18. und 19. Jahrhundert. Für Italien definitiv wurde diese Abwertung spätestens in den Schriften des neapolitanischen Philosophen Benedetto Croce ("Storia dell'età barocca in Italia", 1929), in denen das barocke Neapel als eine Figuration der spanischen Gegenreformation erscheint: Neapel gilt seitdem (und vor allem für diese Zeit) als abergläubisch, zurückgeblieben, vulgär, von einer ebenso faulen wie korrupten Elite regiert, von verbrecherischen Machenschaften beherrscht.

Die Rückkehr der Sammlung an den Ort, an dem sie ursprünglich zu sehen war - denn die Familie Vandeneynden residierte in diesem Palazzo Zevallos Stigliano -, ist deswegen nicht nur von kunsthistorischem Interesse. Sie ist auch geeignet, jenes Vorurteil zu relativieren. Sie vermittelt eine Vorstellung davon, wie man damals in einer Elite dachte, die ebenso von ökonomischen wie von künstlerischen und intellektuellen Interessen geprägt war: Auffällig zum Beispiel ist, welch große Bedeutung die Stillleben, ein in den Niederlanden entstandenes, aber in Rom eher gering geschätztes Genre, für die Sammlung besitzen, in Gestalt von Blumengestecken (Abraham Brueghel) oder von Wildbret (Jan Fyt). Nun, auch in diesen Werken spiegeln sich die engen Beziehungen zwischen den Niederlanden und Neapel, mag man sagen, und auch sie gehören zum üblichen Programm des Barock, zu Sinnlichkeit und Tod, zu Genuss und Vanitas. Wie aber, wenn sich in den erlegten Hasen und Vögeln eine ähnliche Allegorie verbirgt wie im dicken Silenos? Von der Art nämlich, dass sich in ihnen die Stadt als Beute präsentiert?

Nach dem Tod Ferdinand Vandeneyndens wurde das Erbe im Jahr 1688 unter seinen Töchtern aufgeteilt, die in den neapolitanischen Adel einheirateten, woraufhin die Sammlung in alle Winde verstreut wurde. Doch sind die Akten zum Nachlass erhalten, im Ausstellungskatalog sind die entsprechenden Listen abgedruckt.

Sie lassen vielfältige und weit gespannte Interessen der Sammler erkennen, die nur bedingt etwas mit einem neapolitanischen Barock zu tun haben, der bei Caravaggio beginnt und dann vielleicht über Mattia Preti zu Luca Giordano führt (von letzterem enthielt die Sammlung eine "Heilung des Lahmen", eine sehr bekannte Dürer-Fälschung). Tatsächlich mag es sich im Neapel des 17. Jahrhunderts, zumindest, wenn man reich war und über gute Verbindungen zu halb Europa verfügte, ganz anders gelebt haben: weltläufiger womöglich als in Madrid, der Zentrale, die doch nur auf sich selbst fixiert war, während in Neapel offenbar größere Freiheit herrschte.

Rubens, van Dyck, Ribera. La collezione di un principe. Palazzo Zevallos Stigliano, Neapel. Bis 7. April. Der Katalog ist nur auf Italienisch erhältlich und kostet 34 Euro.

© SZ vom 28.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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