Ausstellung:Der Mönch und der Papst

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Dieser Künstler konnte mehr als Leinwände zerschneiden: Das Mailänder Dommuseum zeigt Relief-Entwürfe von Lucio Fontana - eine Art Wiedergutmachung zum 50. Todestag.

Von Thomas Steinfeld

Vor die Sixtinische Kapelle haben die Kuratoren der Vatikanischen Museen eine Prüfung gesetzt. Der Besucher muss die Säle mit der religiösen Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts durchqueren. Es stehen und hängen darin gewiss bedeutende Werke: die beiden Mönche von Ernst Barlach, die Hand Gottes von Rodin, eine Pietà von Chagall, eine Sturmfahrt Christi von Giorgio de Chirico. Dass diese Werke blass wirken, ja sogar falsch, liegt indessen nicht nur daran, dass sie zwischen Raffael und Michelangelo untergebracht sind. Sie leiden auch daran, dass man bei ihnen den Ernst, den man von einem Werk der religiösen Kunst erwartet, nicht mehr findet. Aus dem Diesseits scheint in der Moderne kein gangbarer Weg mehr ins Jenseits zu führen, und wenn das Jenseits dennoch auftreten soll, macht es bestenfalls einen esoterischen Eindruck.

Wenige Werke ragen aus der Reihe der sonderbaren Verklärungen heraus. Zwei stammen von Lucio Fontana (1899 bis 1968), dem Mailänder Künstler, der zu Unrecht immer nur mit den zerschnittenen Leinwänden assoziiert wird, die ihn in den Fünfzigern berühmt machten. Beide Werke sind Reliefs, bronzene Abgüsse von Gipsentwürfen für das fünfte Tor des Mailänder Doms. Der eine Entwurf zeigt einen Mönch, der sich an seinem Schreibtisch über ein Buch beugt. Der andere zeigt Martin V., jenes Oberhaupt der Kirche, das nach dem Konzil von Konstanz das Abendländische Schisma beendete, wieder in Rom einzog und der erste Papst der Renaissance wurde.

Beide Reliefs sind von großer Lebendigkeit: Die Körper scheinen sich aus dem Material gerade erst herauszubilden, die Gesichtszüge, vor allem das Antlitz des Mönches, sind nicht nur fein, sondern beseelt, und die Hand, die über einer Buchseite schwebt, befindet sich nicht nur dort, um das Blatt zu wenden, sondern ist ihrerseits reiner Ausdruck von Konzentration und Innigkeit. Vor allem aber zeichnen sich beide Reliefs durch ein sich je nach Lichteinfall veränderndes Spiel zwischen hellen und dunklen Flächen aus: als würden sich Irdisches und Jenseitiges immer wieder neu und immer wieder anders verbinden.

Im Mailänder Dommuseum zeigt gegenwärtig eine kleine, aber inspirierte Ausstellung, wie es zu diesen Entwürfen kam - und was daraus wurde. Bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein besaß der Dom nur relativ einfache Holzportale, eingefasst in eine prächtige Umrahmung aus der Renaissance. Sie wurden dann allmählich durch Tore aus Bronze ersetzt, beginnend mit dem mittleren Tor. Es wurde im Jahr 1909 von Ludovigho Pogliaghi im neugotischen Stil gestaltet und zeigt Stationen aus dem Leben Marias. Die Gestaltung des fünften, letzten Tors war dem Dom selber gewidmet, seiner Geschichte und seiner Pracht.

Mit ihm sollte der gigantische Bau, dessen Fertigstellung sich über mehr als 600 Jahre hingezogen hatte, abgeschlossen werden. Die Dombauhütte schrieb den Wettbewerb im Jahr 1950 aus. Als er nach mehreren Durchgängen sechs Jahre später entschieden wurde, gab es zwei Gewinner: Lucio Fontana und Luciano Minguzzi, einen Bildhauer, der bei Giorgio Morandi gelernt hatte und weitaus weniger zu expressiven Abenteuern neigte. Den Zuschlag erhielt Minguzzi. Fontanas Entwurf, so die Jury, stelle eine "arte novissima" dar, die dem Dom nicht angemessen sei. Der Superlativ steht in diesem Fall also nicht nur für die "neueste", sondern auch für die "neumodische" Kunst.

Dass die Jury sich damit nicht nur gegen die bessere, sondern auch gegen die frömmere Kunst ausgesprochen hatte, muss ihr bewusst gewesen sein. Sie hatte im Verlauf des Wettbewerbs entschieden "die vibrierende Kraft" gelobt, mit der sich in Fontanas Entwurf der Geist aus der Materie zu lösen scheine. Indessen erging es einer "Mariä Himmelfahrt", einem weiteren Dom-Relief, für das Fontana 1954 einen Auftrag erhalten hatte, kaum besser als seinen Vorschlägen für das Tor. Der Entwurf wurde angenommen, aber nicht ausgeführt. Er ist nun während der Ausstellung über dem Altar der heiligen Agathe zu sehen, für den er bestimmt war.

Die Ausstellung, zum 50. Todestag des Künstlers ausgerichtet, hat etwas von einer Wiedergutmachung, wobei die Dombauhütte diesen Gedanken gar nicht schätzt. Stattdessen verweist ihr Präsident auf die Aufgabe, die Geschichte des Doms zu dokumentieren, während sich der Erzpriester des Doms auf Papst Paul VI. beruft: Als dieser im Juni 1973 in den Vatikanischen Museen die Abteilung für moderne religiöse Kunst eröffnete, erklärte er, auch der "säkulare", allenfalls "spontan religiöse" Künstler könne ein Vermittler, gar ein Spiegel des Göttlichen sein. Dass man im Fall von Lucio Fontana gar nicht so weit gehen muss, offenbart dessen letzter maßstabsgerechter Gipsentwurf für das fünfte Tor, den man Anfang dieses Jahres im Lager der Dombauhütte fand. Auch er ist nun Teil der Ausstellung.

Eine Leinwand zerschnitt Lucio Fontana zum ersten Mal im Herbst 1958. Wenige Monate später wurde eine Gruppe von "tagli" ("Schnitten") Teil einer Ausstellung in Mailand, wo sie großes Aufsehen erregte, vielleicht auch, weil manche Besucher wussten, welche Enttäuschungen im Figurativen diesem diesem Willen zur Zerstörung des Bildträgers und damit der Illusion in der Kunst vorausgegangen waren. Kurz darauf begründete Fontana seinen Schritt als "Akt des Glaubens an das Unendliche, als eine Bestätigung der Spiritualität". Es dauerte indessen nicht lange, bis dieser Ursprung der italienischen Avantgarde in einer unerfüllt bleibenden Religiosität von der Kunstgeschichte vergessen wurde.

L'arte novissima. Lucio Fontana per il Duomo di Milano, 1936 - 1956. Museo del Duomo del Milano. Bis 27. Januar 1927. Der Katalog ist auf Italienisch und Englisch verfasst und kostet fünf Euro.

© SZ vom 29.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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