Ausstellung:Baumschatten, Sonnenflecken

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An der Grenze des Wahrnehmbaren skizziert und gestrichelt, mit Filzstift oder Kugelschreiber: Peter Handke als Zeichner zwischen Realismus und Abstraktion in einer Berliner Ausstellung.

Von Gustav Seibt

Peter Handke publiziert seit dem "Gewicht der Welt" von 1977 immer wieder Auszüge und Sammlungen seiner handschriftlichen Notizbücher, zuletzt 2016 den Band "Vor der Baumschattenwand nachts". Es dürfte nicht wenige Leser geben, für die diese Sammlungen von Wahrnehmungen und Gedanken der brauchbarste, anwendbarste Teil von Handkes Werk sind. An diesen Wahrnehmungen mit der Sprache und an der Sprache, Sammlungen von eigenen und fremden Gedanken kann man sein Sehen der Welt und das Hören der Wörter trainieren. Übrigens auch das Lesen: Der jüngste Band ist voller Zitate von Goethe, vor allem aus dessen Briefen; sie akzentuieren das Bild einer betriebsamen Einsamkeit und einer gletscherartigen Ferne, wie es bisher nur die Analysen Albrecht Schönes ans Licht gebracht haben. Handke schafft das allein durch die Auswahl seiner Stellen.

Außerdem enthalten die eng und randvoll beschriebenen Seiten immer wieder Zeichnungen, die wie Miniaturen in einem Kodex wirken - die publizierten Bände enthielten sie in schmalster Auswahl. Manche sind nur umrisshaft skizziert, andere füllig ausgestrichelt, etliche farbig gearbeitet. Einige mit dünnem, rasch übers Papier gleitendem Filzstift, andere mit Kugelschreibern, die sich tief ins Papier graben, sich wie mit einer Art von Wut zu schwärzlichen Klumpen verdichten, so wenn Vogelschwärme ihre Muster finden. Handke beherrscht das Umrisszeichnen, aber er kann auch das, was Goethe "undulatorisch" nannte, das immer nachsetzende Stricheln in kraftvollen Bewegungen. Und er beherrscht die zarteste Feinzeichnerei, so wenn er sich der Oberfläche von Walnüssen oder den lamellenartigen Unterseiten von Pilzfächern zuwendet.

Bei den Pilzen setzt er aber auch Abdrucke von kleinen Originalen auf seine Seiten, der Natur werden also ihre eigenen grafischen Muster abgewonnen. So schwebt dieses Zeichnen genau in der Mitte zwischen der Schrift und den Gegenständen, die nicht mehr abgebildet, sondern hineingenommen werden ins Papier. Sehen, Sammeln, Schreiben, Zeichnen werden auf diesen Blättern zu einem Kontinuum - wer Vergleiche sucht, mag sie in den "Cahiers" von Paul Valèry finden.

Noch sind Handkes Notizbücher nicht faksimiliert worden, das Zusammenspiel von Zeilen und Zeichnungen, die Frequenz der Bilder lässt sich nur erahnen. Doch kann man jetzt in der Berliner Galerie Friese 107 solcher Miniaturen in aller Ruhe betrachten. Sie wurden aus seinen Heften so ausgeschnitten und auf Papier geklebt, wie man früher mittelalterliche Miniaturen aus den Pergamenten schnitt - nur, dass hier das Einvernehmen des Künstlers den Gedanken an Gewalt nicht aufkommen lässt. Es ist ein großes Vergnügen, sich diesen meist nur handballengroßen Blättern mit den Augen zu nähern - Lesebrille, vielleicht eine Lupe, unbedingt mitbringen - und das an die weißen Wände eines großzügigen Stuckaltbaus geheftete Stundenbuch Stück für Stück abzuschreiten. Viele der Blätter bewegen sich am Rand zur Abstraktion, so wenn die Bahnen von Regentropfen an Eisenbahnfenstern oder Kristalle an Flugzeugfenstern ins Bild kommen - japanische Zartheit, fast nicht reproduzierbar. Handke kann das Detail und die Totale, den Blick auf ein Dorf oder einen mit Segeln gesprenkelten See neben der Mikroskopie (aus Nussschalen wuchernde Härchen oder eine Feder). "Ut pictura, ut poesis", variiert der Notizenband von 2016 Horaz: "Wie das Baumschattenspiel in der Nacht, so das Sonnenfleckenspiel am Morgen", die Metapher entsteht direkt beim Sehen, in den Augen oder beim Zeichnen auf dem Papier, die Verbalisierung steht am Ende. Poetik auf zwei Zeilen.

"Zeichnen heißt entdecken", heißt es kurz danach: "der Ausbuchtungen, der Akzentuierungen, der ,Schattenbahnen' (erkannt v. Kurt Badt an Cézanne)". Das verweist auf "Die Lehre der Sainte-Victoire" von 1980, wo solche Schattenbahnen als kaum wahrnehmbare geologische Bruchstellen zwischen verschiedenen Gesteinsarten entdeckt werden. Man mag an zerbröselnde Linien denken, die unerkennbar werden, wenn man ihnen zu nahe kommt, aber der Fernsicht des Malers zugänglich bleiben. Auch als Zeichner operiert Handke an der Grenze des Wahrnehmens, des Begriffslosen.

Manchmal gibt es reizvolle Doppelungen von Zeichnen und Beschreiben. Diesen Christus gibt es auch gezeichnet: "Was strahlt da ab vom Antlitz des armen, kleinen, schmerzgekrümmten Gekreuzigten aus dem 13. Jahrhundert in der Kapelle des Hl. Franz von Sales in Versailles? ,Es ist vollbracht' - in der Tat. Und doch ist erst Gründonnerstag"-. Zeichnen beschreibt Handke "als Gewichtsausgleich, als Einpendeln eines seelisch-körperlichen Gleichgewichts nach all dem tag-, jahr-, jahrhundert- und jahrtausendelangen Jagen und Sammeln, Gejage und Gesammle". Tatsächlich gibt es kaum etwas Konzentrierteres als das Zeichnen. Heute ist es befreit von der Last des Wiedererkennens, es kann der Versenkung und dem Ausdruck dienen: Ut pictura, ut poesis.

In der Berliner Galerie Klaus Gerrit Friese, Meierottostraße 1, bis zum 2. September. Ein Katalog ist in Vorbereitung.

© SZ vom 24.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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