Auđur Ava Ólafsdóttir: "Miss Island":Die Schönheit denkt

Lesezeit: 4 min

Die Schriftstellerin Auđur Ava Ólafsdóttir, geboren 1958 in Reykjavik. (Foto: © Anton Brink/Insel Verlag.)

Eine Frau, die heißt wie ein Vulkan, will schreiben. Aber dafür ist die Welt ist noch nicht bereit in Auđur Ava Ólafsdóttirs feministischem Roman "Miss Island".

Von Kristina Maidt-Zinke

Auf Island, der größten Vulkaninsel der Erde, wachsen die nördlichsten Bananenstauden der Welt, und auch sonst herrscht kein Mangel an Superlativen. Zum Beispiel nehmen die Isländer, was die Gleichstellung der Geschlechter und die Akzeptanz queerer Lebensmodelle betrifft, eine globale Spitzenposition ein. Aus heutiger Sicht mag das nicht weiter erstaunen, haben wir uns doch an die prinzipielle Progressivität des hohen Nordens gewöhnt. Auch dürften in einem Staatswesen, dessen aktuelle Einwohnerzahl noch unter der von Wuppertal liegt, gesellschaftliche Weichenstellungen relativ reibungsfrei funktionieren. Wer sich aber von Auđur Ava Ólafsdóttirs Roman "Miss Island" in die isländischen Verhältnisse der 1960er-Jahre zurückversetzen lässt, der wird den Fortschrittssprung des kleinen, heißkalten Landes künftig mit gesteigertem Respekt betrachten.

Das ist jedoch nur eine Facette dieses ebenso vielschichtigen wie amüsanten Prosawerks, für das die Autorin 2019 den französischen "Prix Médicis étranger" erhielt. Ólafsdóttir, Jahrgang 1958 und somit 16 Jahre jünger als ihre Ich-Erzählerin in diesem Buch, hat an der Sorbonne Kunstgeschichte studiert und nicht nur in Frankreich, sondern auch in Italien gelebt, weshalb sie in diesen Ländern bekannter ist als bei uns. Durch "Miss Island" könnte sich das ändern. Der Roman lässt sich als feministisches Quasi-Manifest von erfrischender Komik und Coolness lesen, aber auch als außergewöhnliche Liebesgeschichte und vor allem als Hommage an jene Eigenart der Isländer, die zehn Jahre nach dem legendären Gastland-Auftritt des Inselstaates bei der Frankfurter Buchmesse noch exzentrischer wirkt als damals: eine aus der mittelalterlichen Saga-Tradition in die Gegenwart gerettete, obsessive Begeisterung für Literatur.

Auch auf dem Land lesen Frauen, aber Schreiben gilt als Männersache

Der Prolog, auf das Jahr 1942 datiert, scheint direkt an alte Märchen und Mythen anzuknüpfen. Auf einem abgelegenen Hof in der Region Dalir, am Schauplatz der "Laxdæla Saga", wird ein Mädchen geboren, unter tätigem Beistand des Tierarztes, der sich mit einem neuen Stück Lux-Seife die Hände wäscht und dann das Kind hochhebt mit den Worten "Lux mundi", Licht der Welt. Das ist schon ein enormer Lebensauftrag, doch der zweite folgt sogleich: Der Vater, besessen von feuerspeienden Bergen, nennt den Säugling Hekla, gegen den Protest der Mutter. Als viereinhalb Jahre später der gleichnamige Vulkan ausbricht, fährt er mit seiner Tochter im Russenjeep zum Ort des Geschehens. Danach ist die Kleine verändert, spricht "Vulkanisch" und richtet den Blick zunehmend in die Höhe und in die Ferne. Dort liegt ganz offenbar ihre Bestimmung, denn ihre Eltern sind zwar Bauern, aber der Vater ist hochbelesen und korrespondiert mit Geologen, und die Mutter, die von all diesen Begebenheiten berichtet, tut das in einer humorvoll-gebildeten Diktion.

So verwundert es kaum, dass die zu einer Schönheit herangereifte Hekla, als sie 1963 im Überlandbus nach Reykjavik aufbricht, den "Ulysses" dabeihat, samt Wörterbuch. Die Kunde von dem Jahrhundertwerk ist bis in Islands wilden Westen vorgedrungen, das Bibliothekswesen funktioniert bestens, Bildungswille und Lesehunger gedeihen auch auf dem Land und auch bei jungen Frauen. Schreiben allerdings gilt als Männersache. Die Heldin aber hat den Plan, Schriftstellerin zu werden. Sie behauptet, dafür in ihrer Heimat nur ein einziges Vorbild zu kennen, mit dem es dazu noch ein tragikomisches Ende nahm. Das ergibt eine hübsche Anekdote, auch wenn dabei die viel beachtete neuromantische Dichterin Unnur Bjarklind alias Hulda unterschlagen wird, die zwischen 1909 und 1946 etliche Lyrik- und Prosabände veröffentlichte und die im Roman mehrmals zitiert wird.

Die Atmosphäre Reykjaviks in den frühen Sechzigern, halb noch dänisch, halb schon amerikanisch geprägt, hat die Autorin sehr lebendig rekonstruiert. Fast wieder märchenhaft erscheint die Anzahl der Buchhandlungen und Literaturcafés im Verhältnis zu den seinerzeit knapp 80 000 Einwohnern der Hauptstadt. "Mokka" heißt der angesagteste Treffpunkt für Dichter und solche, die es werden wollen: lauter Männer, eine geschlossene Gesellschaft, die den selbstbewussten weiblichen Neuzugang misstrauisch beäugt. Mit männlichen Blicken ganz anderer Art wird Hekla dort taxiert, wo sie notgedrungen ihren Lebensunterhalt als "Kaltmamsell" verdienen muss, im Speisesaal des Hotel Borg, dem Treffpunkt des bräsigen isländischen Bürgertums: Dort legt man ihr nahe, die literarische Karriere zu vergessen und sich lieber um den Titel der "Miss Island" zu bewerben.

Auđur Ava Ólafsdóttir: Miss Island. Roman. Aus dem Isländischen von Tina Flecken. Insel, Berlin 2021. 239 Seiten, 22 Euro. (Foto: N/A)

Es sind aber nicht nur die lüsternen Avancen der Herren oder die bösen Erfahrungen der Servierkolleginnen, die sie davon abhalten, dem Lockruf zu folgen: Sie will schreiben, in jeder freien Minute, und ihre Art, das Glück des Schreibens zu schildern, macht diese Passion sogar nachfühlbar. Vermutlich verfügt auch sie über die luftig-lakonische Sprache, mit der es ihrer Erfinderin gelingt, Milieus und Menschen so zu charakterisieren, dass das Wesentliche, mal subtil ironisch, mal sarkastisch, dann wieder unmittelbar anrührend, zwischen den Sätzen aufscheint.

Die junge Frau mit der vulkanischen Energie ist keine Insel, sie hat Weggefährten mit einprägsamen Stimmen. Da ist die gesprächige Jugendfreundin Ísey, die so gern auch schreiben würde, sich aber für den Lebensentwurf der Gattin und Mutter entschieden hat und häufig damit hadert. Da ist der Möchtegern-Dichter Starkađur, der aus Hekla am liebsten ein Heimchen am Herd machen würde, bis er einsieht, dass ihr Talent das seine weit übertrifft. Und da ist Jón John, ihre große Liebe und ihr Seelenfreund, der als schwuler Mann im Island jener Ära mindestens so viel Anstoß erregt wie eine schreibende Frau: Er träumt davon, Theaterschneider zu werden, und muss sich stattdessen auf Fischtrawlern verdingen. Von einem wie ihm handelt Heklas erstes Romanmanuskript, das der Verleger, obwohl beeindruckt, selbstverständlich ablehnt. Sein Kernargument, "dass sich dieser Text zu sehr von dem unterscheidet, was wir normalerweise herausgeben", könnte übrigens glatt von heute sein.

Wohl selten wurde eine Paarbeziehung, der die erotische Dimension versagt bleibt und die dennoch von existenzieller Tiefe ist, so zart geschildert wie hier. Am Ende setzen sich Hekla und Jón John, mit Kopenhagen als Zwischenstation, in ein südliches Land ab. Auch dort hat die Erde ihre gefährlichen vulkanischen Momente, doch in der Wärme scheint es leichter zu sein, sich die Hoffnung auf eine bessere Welt für Schwule und Schriftstellerinnen zu bewahren. Die sich später ja tatsächlich erfüllt hat. Jedenfalls zu einem guten Teil.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Bücher des Monats
:Grenzerfahrungen in der Literatur

Salman Rushdie schreibt über seine Covid-Erkrankung, der Soziologe Urs Stäheli denkt über Netzwerke nach und die Französin Nastassja Martin überlebte den Angriff eines Bären, nun schreibt sie über ihr Verhältnis zur Natur.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: