Christus, der König, bekommt in diesem Jahr zwei neue Kirchen geschenkt. Beide wachsen im armen Norden von Belo Horizonte, der drittgrößten brasilianischen Stadt. Die eine wird sich auf 100 weißen Metern in den Himmel drehen, wie ein vielstimmiges Gebet, gesungen von den bis zu 25.000 Menschen, die in und vor dem Gotteshaus Platz finden sollen. Ihr Architekt ist Oscar Niemeyer, dessen Karriere in den späten dreißiger Jahren in Belo Horizonte begann, bevor er die Hauptstadt Brasilia baute. Niemeyer feiert am heutigen Donnerstag seinen 104. Geburtstag. Die Kathedrale wird seine letzte, sagt er. Gerade wurde der Grundstein gelegt und das erste Kreuz errichtet. Jetzt sammelt das Bistum Spenden für den Bau; 100 Millionen Reais (etwa 41 Millionen Euro) sind nötig.
Auch die andere Kirche heißt Cristo Rei - Christus, unser Herr und König. Sie besteht aus Ziegeln, die Anwohner der Favela von Neves aufeinandergetürmt haben. Die Stühle sind aus Plastik, und leider hat der Architekt, ein zahnloser Nachbar, die Sakristei vergessen. Bauherr ist Padre José, ein Geistlicher mit mehr Lach- als Sorgenfalten. Am Heiligabend wird er in einem Schuppen seinen Talar anlegen und sich den Weg zur Kirchentür durch die Menge bahnen. Über dem Portal wird Christus seine Arme ausbreiten und die Gläubigen empfangen - als ein Meter hoher Gipsabguss der Christusstatue aus Rio. In dieser bilder- und werbearmen Gegend wird die billige kleine Figur weit über die Dächer der selbstgezimmerten Bungalows zu sehen sein.
Die Kirche muss sich in Brasilien etwas einfallen lassen. So wichtig Religion in diesem Land ist, Riten, Gebete, Hoffnungen, längst hat der Katholizismus seine Exklusivität in Glaubensdingen verloren. Gebildete Städter liebäugeln mit dem pseudochristlichen Kult Santo Daime und konsumieren in Zeremonien Urwalddrogen, oder sie wandern ab zum Candomblé, der Religion der Afrobrasilianer. Verheerender aber ist, dass der Kirche die Armen weglaufen. In den Favelas fehlen katholische Priester, dafür rufen noch in den hintersten Winkeln freikirchliche Erweckungsprediger in Anzug und Krawatte Verheißungen in das Mikrofon.
In manchen Straßen liegen ein Dutzend verschiedener Pfingstkirchen nebeneinander, auf ihren Fassaden prangen die übergroßen Porträts der Heilsredner. Die Showmaster lassen laut singen und beten, und wer mit einer Sorge oder Krankheit zu ihnen kommt, dem versprechen sie himmlische Hilfe - und nehmen den Zehnten noch von der Alleinerziehenden, die rund um die Uhr in fremden Haushalten schuftet. Das statistische Institut Brasiliens ermittelte 40 Millionen Evangelikale im Land; demnach besucht beinahe jeder fünfte Brasilianer eine Freikirche.
Früher lehnte die Kurie der Stadt den spirituellen Kommunisten Niemeyer ab
Erzbischof Dom Walmor weiß um den Ernst der Lage. Der noch junge Kirchenmann mit Brille und schnellem Schritt braucht beides: den himmelhochjauchzenden Massenmagneten Oscar Niemeyers und die erdigen Armutskirchen des Padre José. Die Kirche im Bundesstaat Minas Gerais wolle nicht nur predigen, sondern auch helfen, sagt der Bischof, sie sorge sich im Gegensatz zu den evangelikalen Wunderpredigern um Bildung, Gesundheit und Chancen der Armen. Wenn er so redet, von Gerechtigkeit und sozialem Engagement, dann wirkt er auf dem goldstarren Rokokosofa seiner Vorgänger ein wenig deplatziert. Die schweren Gardinen des Bischofspalastes im Stadtzentrum verdecken die Aussicht auf den schon modrigen, weich geschwungenen Wohnturm, den Oscar Niemeyer gleich gegenüber errichtete.
Früher lehnte die Kurie der Stadt den spirituellen Kommunisten Niemeyer ab. 1943 hatte er in seinem neu konzipierten Stadtteil Pampulha, einem Naherholungsgebiet, dem Heiligen Franziskus eine so behutsam wie behütend entworfene Kapelle direkt am Seeufer gewidmet. Bis in die späten fünfziger Jahre weigerte sich die Kurie, die in weiblichen Formen geschwungene Kirche zu weihen. Zu schlicht schien diese blauweiße Welle aus Beton und Kacheln, zu wenig Prunk, und dann hatte sie auch noch ein Ungläubiger erfunden.
In der Nachkriegszeit wollte der damalige Erzbischof in das moderne Stadtzentrum eine Kathedrale im Stil des Petersdoms setzen. Der Plan scheiterte an seiner Hybris; es fehlte weiterhin eine Kathedrale - bis Bischof Dom Walmor 2005 nach Rio pilgerte, um mit langem Händedruck und versöhnlichen Worten den alten Atheisten zu umwerben. Wenig später hielt er Oscar Niemeyers Projektskizze in den Händen: Im Vorstadtgrau tanzt ein federleichter Gigant neben der Hauptverkehrsstraße. Weißer Beton fließt in den Himmel und macht weit oben einen Knicks. Wie immer bei Niemeyer , so wird auch dieses Werk nur mit Sonnenbrille zu ertragen sein. Seine lichte Baukunst blendet, beschwingt, betört, und das umso mehr, je trostloser die Umgebung ist. Vielleicht braucht die Kirche einen solchen Visionär, um noch ein letztes Mal jene spirituelle Wucht zu entfalten, die einst die Menschen beim Anblick gotischer Kathedralen taumeln ließ.
Padre José mag solche Scherze
Dom Walmor mag eine der größten Kathedralen des Kontinents planen - der fleißigste sakrale Bauherr von Belo Horizonte bleibt Padre José. 21 Kirchen hat er in den vergangenen acht Jahren errichtet, alle im Stadtteil Neves in der Nähe von Niemeyers Neubauprojekt. Der Bundesstaat Minais Gerais ist berühmt für seine figurenreichen Barockkirchen aus der Goldgräberzeit. Die Gotteshäuser des Padre José sehen dagegen aus wie der Stall von Bethlehem. Eines besteht aus einem Wellblechdach, einem schmalen Holzkreuz und einigen Baumstümpfen zum Sitzen. Als Rückwand dient ein ausgedientes Baustellenschild: "Ein Werk der Regierung von Minas" steht darauf, die Schrift kopfüber. Padre José mag solche Scherze. Deshalb hat er seine neueste Kirche, das kleine Backsteinhaus mit Gips-Jesus, wie Niemeyers Projekt benannt. "Unser Cristo Rei war schneller fertig", sagt er und lehnt sich lächelnd an die unverputzte Wand.
70.000 Menschen leben in seiner Gemeinde, nicht mitgerechnet die Tausenden Strafgefangenen der fünf überfüllten Massengefängnisse, um die der Ort gewachsen ist. Niemand wohnt in Neves, der es nicht muss. Eher ziehen die Leute in ein schimmeliges Hochhaus an der Autobahn als in die Satellitenstadt der Verbrecher. Auch die Priester halten sich fern. Der Vorgänger von Padre José feierte seine Gottesdienste außerhalb des Armenviertels. Immer noch traut sich kaum ein junger Geistlicher her. Dass der Vatikan inzwischen die politisch engagierte Theologie der Befreiung nach Leonardo Boff an den Priesterseminaren verboten hat, verschärft den Mangel drastisch.
Padre José, 48 Jahre alt, gehörte dem letzten Befreiungslehrgang an. Seine 21 Kirchen bespielt er nun gemeinsam mit Schwester Graciema. Die furchtlose Nonne kennt sich in Naturmedizin aus und unterrichtet in der Gemeinde Krankengruppen, die ihre Erkenntnisse nach dem Jüngerprinzip weitertragen. Ruhig ist es an einem winterlichen Sonntagmorgen um 9 Uhr in Neves. Erst nach einer Weile merkt man, was alles fehlt. Hochhäuser. Läden. Straßenschilder. Asphalt. Kaum Autos gibt es und darum auch keinen Smog. Ein Mann scheucht seine Hühner zusammen. Eine Frau müht sich am Wäschebottich. Keine drogensüchtigen Jugendlichen sind zu sehen, es ist noch zu früh. Ein Volkswagen biegt rasant um die Ecke und wirbelt Staub auf. Padre José steigt aus und stolpert nur knapp nicht über sein knöchellanges grünweißes Messgewand. Er hat schon einen Gottesdienst gelesen, drei liegen an diesem Tag noch vor ihm und eine Taufe. Im Gehen beißt er von einer Stulle ab und eilt über den Bauschutt zur nächsten Kirche. Deren Turm und Obergeschoss sind erst halbfertig.
Ihr atmet, ihr lebt, weil Gott euch liebt
Die Messe hat bereits begonnen, die Menschen drängen sich bis auf die Straße. Vor dem Altar steht Schwester Graciema am Mikro. "Scheiße", sagt die 70-Jährige, "wie werden wir all diese Scheiße los?" Blick in die Runde durch tiefe Brillengläser. "Wenn deine Mutter wieder einmal jammert, frag sie, wie sie geschissen hat. Sagt sie: schlecht, dann sag ihr: Trink mehr Wasser! Mindestens zwölf Glas am Tag. Das hilft gegen schlechte Laune." Ein Abbild Gottes sei der Mensch, sagt die Nonne, da müsse er doch auf sich und seinen Körper achten. Ein Depressiver kann Gott nicht ehren, und für Verzweiflung gibt es in Neves Gründe genug: Die Cracksüchtigen, die für ein bisschen Stoff morden gehen. Die vielen schwangeren Jugendlichen. Die Wasserpreise, die verhindern, dass die Leute ihr Gemüse zwischen den illegalen Ziegelhäusern selbst ziehen. Jetzt noch zwei Atemübungen, alle tief Luft holen, aus, ein, aus. Ihr atmet, ihr lebt, weil Gott euch liebt. Dann übergibt Schwester Graciema das Mikro an Padre José.
Der feiert eine ganz normale Messe, küsst die Bibel, ermuntert den Gitarrenspieler, der die Orgel ersetzt. Seine Predigt ist lang, die Leute haben Zeit. Er erzählt von seinen Haftbesuchen in den überfüllten Anstalten, fragt: "Warum sitzen dort nur die Elenden ein? Armut ist keine Sünde!" Gerade wird noch ein Gefängnis gebaut, Padre José hat dagegen in seiner selbstgedruckten Zeitung gewettert. Sie heißt Clamor do Povo , Aufschrei des Volkes. Viele Bürger von Neves sehen in ihm den wahren Volksvertreter und stehen ihm bei, wenn er etwa wieder einmal Ärger mit einem Politiker hat, den er wegen Stimmenkaufs angezeigt hat. Er ist selbst in einer Favela aufgewachsen und hat sich hochgearbeitet, um als Pfarrer Kirchen zu bauen - weil es an dem Unort seiner Kindheit kein katholisches Gotteshaus gab. Würde er größer und teurer bauen, wenn er könnte? Oh nein, die Pharaonengräber überlasse er gerne seinem Chef Dom Walmor, sagt Padre José. Die rund 10.000 Kirchgänger von Neves kämen auch in Wellblech- und Garagenkirchen. Aber noch mehr dieser Häuser müsste es geben, zumal die Leute sich hier auch zum Bibellesen und Reden treffen.
Der große schöne und der kleine armselige König Christus werden sich auf ihre Art vertragen. Niemeyers lebensfroher Himmelsschwung soll nicht nur Gebetsräume, sondern auch ein Bildungs- und Gesundheitszentrum beherbergen. Die Zukunft der Kirche könnte in Belo Horizonte in Händen zweier Utopisten liegen, der eine Stararchitekt, der andere Armenpfarrer. Wenn sie nicht von den Fernsehpriestern und Wunderheilern übertönt werden, deren Hallen sich an der Ausfallstraße zwischen Neves und der Kathedrale aneinanderreihen. Der Vatikan wird sich entscheiden müssen, ob er in Südamerika auf solche unorthodoxen Kirchenbauer setzt - oder ob er Gegenden wie den Norden Belo Horizontes einfach preisgibt.
Das Interview mit Oscar Niemeyer aus der Süddeutschen Zeitung vom 15.11.2011 lesen Sie hier.