"Après Mai" in der SZ-Cinemathek:Ideen sind wichtiger als Zuneigung

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Das Narrativ der Paarbildung stockt: Gilles (Clément Métayer, rechts) und Christine (Lola Creton) in "Après Mai". (Foto: dpa)

In "Après Mai" versucht Olivier Assayas, sich einen Reim auf die eigene Jugend zu machen. Aber es geht um weit mehr als um die "wilde Zeit" linker Revoluzzer, die der deutsche Titel verspricht. Das Denken soll die eigentliche Hauptrolle spielen.

Von Tobias Kniebe

Es gibt einen Moment am Anfang dieses Films, da meint man, das ganze Unternehmen bereits zu durchschauen. Die frühen Siebzigerjahre, irgendwo in den Pariser Vororten, sind da schon sehr lebendig wiederauferstanden: mit Wuschelkopf und Afrolocken, mit Anden-Ponchos und bestickten Hirtentaschen, mit Schlaghosenjeans und jenen herrlich schlanken Motorradhelmen, die in unserer hässlichen, sicherheitsfixierten Gegenwart gleich Wehmut auslösen.

Die Jugend hat auch schon ihre ersten Schlachten geschlagen. Gilles, Christine, Alain und ihre Freunde haben Parolen gebrüllt, Tränengas gehustet, die Schlagstöcke der Sondereinheiten gespürt, sich in dunklen Treppenhäusern versteckt. Sie haben ihren Mut und ihre Entschlossenheit ausprobiert, im Zischen ihrer Spraydosen in der nächtlichen Friedhofsruhe, in der Jagd über Torgitter und Maschendraht, gehetzt von den Flüchen der Verfolger und dem Bellen der Hunde in den Vorgärten.

Jetzt hocken sie im Park hinter einer steinernen Rokoko-Balustrade. Tief im Schatten, schwer atmend, der Verhaftung gerade entkommen. Und Gilles, der versponnene Held, greift schüchtern nach der Hand der ernsten Christine, die immer harte Aktionen fordert. Sie erwidert seine Geste, schmiegt sich an ihn.

Schon verstanden, denkt man da. Die ganze Politik, die Träume der Jugend von der gerechteren Welt, die Zusammenstöße mit Ordnungsmacht und Wachpersonal - und dann läuft es doch wieder nur auf diese grundlegende Funktion des Kinos hinaus: die Produktion des systemerhaltenden Paars.

Aus Adrenalin wird Lust, aus der politischen Aktion ein Abenteuer, die Wut verraucht und die Biografien nehmen ihren Lauf. Und später dann, als gefestigter und etablierter Zeitgenosse, kann man nostalgisch zurückblicken: Verändert haben wir damals zwar nichts - aber der Sex! Die Liebe! War schon eine wilde Zeit.

Der gefestigte und etablierte Filmemacher Oliver Assayas, Jahrgang 1955, kommt aus der zweiten Generation der französischen Cahiers du Cinéma-Schule. Er war ein paar Jahre zu jung, um den befreienden Systemstillstand des Mai 1968 bewusst zu erleben. "Après Mai", der Originaltitel des Films, konstatiert das freimütig und stellt zugleich klar: Es ging ja weiter.

Wir erleben also, in den Jahren 1971 und 1972, eindrucksvoll die weitere Zersplitterung der Linken. Hier agieren zum Beispiel Anarcho-Spontanisten, die sich von der Maoisten-Fraktion der Gauche prolétarienne abgespalten haben, selbst aber wieder von Spaltungen bedroht sind. Und weil in Gilles (Clément Métayer) eine Figur im Mittelpunkt steht, die eins zu eins Assayas selbst darstellt - bis hin zum drehbuchschreibenden Vater, der nicht weniger als fünfzig Folgen Fernseh-Maigret rausgehauen hat - liegt der Verdacht sehr nahe, dass der Film tatsächlich nicht mehr bietet als eine stark verklärte Feier der eigenen Jugend.

Fatale Ratlosigkeit

Der Verdacht ist falsch, wie sich dann zeigt. Natürlich schläft Gilles irgendwann auch mit Christine (Lola Créton), die ihm in der Stunde der Gefahr so nahe gekommen ist. Aber es folgt nichts daraus. Weder ist der Sex besonders bemerkenswert, noch bahnt er einer großen Liebe den Weg - das Narrativ der Paarbildung stockt, gerät schließlich völlig aus dem Fokus. Die Ideen der beiden, so versponnen sie sein mögen, sind wichtiger. Und so gewinnt der Film eine flirrende Ambivalenz: Die jungen revolutionären Körper sind schön genug für jede Lüge - aber zugleich hält Assayas trotzig daran fest, das Denken habe damals tatsächlich die Hauptrolle gespielt.

Diesen Versuch, wenigstens der Erinnerung treu zu bleiben, spürt man im Folgenden überall - etwa beim Griff in den Plattenstapel. Da blättert Gilles an Hendrix, Kevin Ayers und den Byrds vorbei und zieht schließlich Syd Barrett heraus. Oder bei den Zeitungen des Widerstands jener Zeit, Tout, Combat, Le Parapluie, J'accuse - da riecht man förmlich die Druckerschwärze, da wird noch einmal erfahrbar, dass damals die lebensverändernden Informationen noch nicht per UMTS um die Welt schwirrten, sondern in Siebdruckkellern vervielfältigt, auf stinkenden Matrizen erst mühsam multipliziert werden mussten. Und dann driftet der junge Gilles, der sich zunächst als Maler versucht, immer mehr zum Film. In verrauchten Studentenkellern flimmern Experimentelles von Bo Widerberg oder Madeleine Riffauds politische Bilder aus Laos - alles wirklich aus der Zeit, echte Ausschnitte, reale Einflüsse. Und bald stehen auch Gilles und seine Freunde vor der ewigen Dilemma zwischen Kunst und Politik: Darf ein Film auf die einfachste Wirkung zielen, wenn er die Massen informieren und aufrütteln will - oder ist schon das der grundlegende Verrat, der jede wahre Revolution im Denken verhindert?

Eine klare Antwort mag man Assayas hier nicht zuschreiben. Sein Ende scheint aber zu suggerieren, dass der Cineast aus diesem Dilemma tatsächlich flüchten kann - hinein in eine umfassende Kinoliebe, die zwischen progressiv und reaktionär, zwischen Trash und Elite gar nicht mehr unterscheiden muss.

Als Schluss eines Films, der so viele Fragen verhandelt, die bis heute weiterbrennen, wirkt das erst einmal merkwürdig. Dann traurig. Und schließlich ehrlich. Wenn dieser Film mehr Wahrheit enthält, als selbst Assayas in seinen Interviews zugeben will - warum soll er dann woanders angekommen sein als alle anderen auch? Nämlich in einer sehenden, nicht unangenehmen, irgendwie lebbaren, aber doch auch fatalen Ratlosigkeit.

Après Mai , F 2012 - Regie und Buch: Olivier Assayas. Kamera: Eric Gautier. Mit Clément Métayer, Lola Créton, Carole Combes. Verleih: NFP, 122 Min.

© SZ vom 29.05.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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