Annie Ernaux: "Das Ereignis":Keine Schande

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Seine Verfilmung macht dieses Buch über eine Abtreibung gerade weltbekannt. Aber die wahre Freiheit erkämpft Annie Ernaux' Erzählung "Das Ereignis" durch ihre literarische Form.

Von Meike Feßmann

Der Weg war weit für Annie Ernaux und für die Art, wie über ihre Bücher gesprochen wird. Der Goldene Löwe beim Filmfestival Venedig für Audrey Diwans Verfilmung ihrer Erzählung "Das Ereignis" ist nur die sichtbare Krönung eines Werks, das seit einigen Jahren große Bewunderung erfährt. Es ist bezeichnend, dass die französische Schriftstellerin in Deutschland erst durch den Erfolg von Didier Eribon und Édouard Louis berühmt wurde. Die beiden Männer mussten zugeben, dass die Methode, für die man sie feierte, von einer Frau erfunden worden war. Die 1940 in der Normandie geborene und in Yvetot aufgewachsenen Annie Ernaux sieht sich als "Ethnologin ihrer selbst", als eine Schriftstellerin also, die mit der eigenen Biografie immer auch die Sitten und Gewohnheiten ihrer jeweiligen Zeit erkundet. Das macht sie schon lange so. Doch bis 2017, als ihr großartiger Roman "Die Jahre" ("Les années", 2008) in der Übersetzung von Sonja Finck herauskam, war sie hier kaum bekannt.

Es ist eine gute Sache, wenn Themen, die plötzlich Konjunktur haben, das Augenmerk auch auf Schreibweisen lenken, die für diese Themen ausgebildet worden sind. Es geht bei Annie Ernaux immer wieder um zwei wesentliche Tatsachen ihrer Existenz: um ihre Herkunft aus einer Familie von Arbeitern und kleinen Händlern, in der sie die Erste war, die studierte. Und darum, mit einem weiblichen Körper geboren worden zu sein. Dass das nicht trivial ist, zeigt "Das Ereignis" auf frappierende Weise.

"L'Évènement", im französischen Original bereits im Jahr 2000 erschienen, erzählt von einer Abtreibung im Januar 1964, also unter den Bedingungen der Illegalität. Annie Ernaux, damals noch Annie Duchesne, macht keinen Hehl daraus, dass sie selbst es ist, die diese Abtreibung erlebt hat - sie, die dreiundzwanzigjährige Studentin von damals, die natürlich nicht mehr identisch ist mit der Schriftstellerin von beinahe sechzig Jahren, die diese Erzählung schrieb. Aus der Differenz zwischen dem früheren und dem gegenwärtigen Ich, der Spaltung des Ichs durch die Zeit, hat Annie Ernaux in anderen Büchern ein Formprinzip gemacht. In "Erinnerung eines Mädchens" ("Mémoire de fille", 2016) spricht sie in der dritten Person von sich, als "sie" ("la fille") und nicht als "ich". "Das Ereignis" jedoch erzählt in der ersten Person von der Frau, die sie im Oktober 1963 war, als sie bemerkte, dass sie schwanger war. Sie wusste sofort, dass sie "das Ding", wie sie den Fötus in ihrem Tagebuch nannte, nicht bekommen wollte. Sie rekonstruiert, dass sie auch deshalb nie von einem "Baby" oder "Kind" sprach, weil es nicht infrage kam, die Schwangerschaft fortzuführen.

Die Schlacke des Subjektiven gelangt nicht ungefiltert in ihre Prosa

Annie Ernaux versucht stets, möglichst exakt an die Stelle ihrer Biografie - oder in "Der Platz" und "Eine Frau" der Biografie ihrer Eltern - zurückzukehren, über die sie schreibt. Sie versenkt sich in Bilder, die aus ihrer Erinnerung auftauchen, sie spürt einem Gefühl nach, findet Worte wieder, die sich eingeprägt haben. Etwa den aufgeschnappten Satz über eine junge Frau, die eine Fehlgeburt erlitt: "sie hat die ganze Nacht gewimmert". "Das Mädchen" erzählte von ihrer ersten Liebe und den körperlichen Folgen, die es hatte, als der Mann, mit dem sie schlief, sie danach einfach ignorierte. Die Fachbegriffe dafür wären Anorexie und Bulimie. Dabei ist es das Zusammenspiel von Ich und Welt, auf das sie das Augenmerk lenkt, indem sie die Codes der Zeit einkalkuliert. Sie weiß, dass das Ich niemals im luftleeren Raum schwebt, dass es immer nur tun kann, was Sitten und Umstände ermöglichen.

Annie Ernaux' Stil ist nüchtern, distanziert. Sie vermeidet alles, was sich nach weiblichen Klischees anhört, auch wenn sie über weibliche Körpererfahrung schreibt. Zwei große Konzepte spielen in dieser Erzählung eine Rolle: "Erfahrung" und "Ereignis". Zwei Formen subjektiven Erlebens, die sie durch ihren Stil so weit abstrahiert, dass sie den Anschein des Objektiven erhalten. Der Stoff ist der gleiche, über den beispielsweise Karin Struck in den 1970er-Jahren in "Klassenliebe" schrieb, einem Paraderoman der "Neuen Subjektivität". Aber Ernaux geht ganz anders damit um. Die Schlacke des Subjektiven gelangt nicht ungefiltert in ihre Prosa. Es ist ein Destillationsprozess, den sie beim Schreiben unternimmt. Anders als die 1947 in Mecklenburg geborene Karin Struck, man könnte aber auch Marlene Streeruwitz nennen, benützt Annie Ernaux die Codes der Distinktion, die Codes der "feinen Unterschiede", wie das Pierre Bourdieu nannte, um ihre Themen zu platzieren. Sie sind bei ihr eine Frage des literarischen Stils.

Was genau macht sie daraus? Ein Lehrstück? Eine Anklage?

Alles, was sie über die Abtreibung schreibt, ist grausam und schockierend: die Herablassung der Ärzte, wie umständlich es war, an Informationen zu kommen, der Rückzug derjenigen, die ihr helfen wollen und dann doch Angst bekommen, die fast obszöne Neugier von Kommilitonen, das Desinteresse des Studenten P., der sie geschwängert hat, der Versuch, den Fötus mit Stricknadeln abzutreiben, die gewaltsame Bergtour mit Kunstlederstiefeln im Schnee, und schließlich die dunkle Gasse im 17. Arrondissement in Paris, wo die in Rouen lebende Studentin zu einer "Engelmacherin" geht, die sie zwei Mal aufsuchen muss, bis sich der Fötus löst und Tage später unter heftigen Krämpfen abgeht. Um nicht zu verbluten, muss sie schließlich doch ins Krankenhaus, wo neben der körperlichen Tortur eine weitere Demütigung auf sie wartet. "Ich bin doch nicht der Klempner!", stöhnt der Arzt bei der Ausschabung, nur um sich später zu beklagen, dass sie ihm nicht gesagt habe, dass sie Studentin ist. Dann hätte er sie anders behandelt, als seinesgleichen.

Was der Studentin zustößt, bekommt durch das Schreiben einen Sinn. Wenn es "das Ereignis" schon in ihrem Leben gegeben habe, dann sei sie auch verpflichtet, etwas daraus zu machen, so empfindet es die Schriftstellerin Jahrzehnte später. Was genau macht sie daraus? Ein Lehrstück? Eine Anklage? Schließlich gelten beispielsweise in Texas neuerdings wieder Gesetze, die Frauen verbieten, über ihren eigenen Körper zu entscheiden.

Annie Ernaux: Das Ereignis. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 104 Seiten, 18 Euro. (Foto: N/A)

Was diese Erzählung vielmehr anstrebt, ist eine Rückeroberung der körperlichen Unversehrtheit durch die Form. Die Schilderung des Aborts auf der Toilette des Studentenwohnheims ist drastisch: "Ich drückte mit aller Kraft. Es schoss aus mir heraus wie eine Granate, das Fruchtwasser spritzte bis zur Tür. Ich sah eine kleine Babypuppe an einer rötlichen Schnur aus meiner Scheide hängen. Ich hatte keine Vorstellung davon gehabt, dass ich so etwas in mir trug. Ich musste damit bis zu meinem Zimmer laufen. Ich nahm es in eine Hand - es war seltsam schwer - und überquerte den Flur, indem ich es zwischen meinen Schenkeln hielt. Ich war ein Tier."

Bei aller Drastik strahlt Ernaux' Prosa "etwas Unsagbares von einer gewissen Schönheit" aus, wie es einmal über ihre Zeit heißt, eine atmosphärische Mischung aus Nouvelle Vague und Noveau Roman. Das ist weniger befremdlich, als es sich anhören mag. Denn was die Schriftstellerin bei ihrer Recherche findet, ist ein gewisser Stolz. Nicht Scham, nicht Schuld, nicht Schande. Sie hat es geschafft, sich ihr Leben nicht ruinieren zu lassen - denn das hätte es für sie bedeutet, wenn aus der Studentin eine unverheiratete Mutter geworden wäre, das Stigma sozialen Versagens, das es damals war.

Dass die Erzählung mit einer Rahmenhandlung in den 1980er-Jahren beginnt, als die Lehrerin, die aus der Studentin geworden ist, mit klopfendem Herzen zu einem Aids-Test geht, zeigt, wie sehr Körper eingebunden sind in gesellschaftliche Prozesse. Die größte Furcht der schwangeren Studentin war nicht der Verlust ihres hart erkämpften sozialen Status, sondern die Angst, ihr gehe mit der Schwangerschaft ihre Intellektualität verloren. Eine weitverbreitete weibliche Furcht, von Simone de Beauvoir über Susan Sontag bis Sheila Heti. Der Stil, den Annie Ernaux über all die Jahre ausgebildet hat, demonstriert genau dies: Schriftstellerinnen können Mütter, Geliebte, Ehefrauen, Alleinlebende und alles Mögliche sein, mit ihren intellektuellen Fertigkeiten hat das nichts zu tun. "Das Ereignis" ist eine Kampfansage an Geschlechterklischees.

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