Oper:Manchmal vergisst man, was sie singt

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Anna Netrebko in der Rolle der schwarzen Sklavin "Aida" bei den Opernfestspielen der Arena di Verona 2022. (Foto: EnneviFoto/Arena Di Verona)

Anna Netrebko singt in der Arena di Verona die Hauptrolle in Giuseppe Verdis "Aida". Und erobert als äthiopische Sklavin das Publikum.

Von Helmut Mauró

Über die Inszenierung muss man nicht streiten. Es genügt, auf den Regisseur Franco Zeffirelli zu verweisen, seinen sehr italienischen Hang zu Größe und Opulenz, und auf den Spielort: die Arena di Verona, einst ein Amphitheater der Römer, heute Touristenmagnet und Spielstätte von Italiens berühmtestem Opernfestival. Für Giuseppe Verdis Oper "Aida", die im alten Ägypten spielt und dessen kriegerische Auseinandersetzungen mit Äthiopien auf eine tragische Liebesgeschichte eindampft, bedeutet dies vor allem ein Schaulaufen üppig kostümierter Statisten, ein albern plumpes Ballett schwarz bemalter Tänzer und, natürlich, ein paar Sänger von Format. Die werden, wie der Dirigent Marco Armilliato und das Orchester der Arena di Verona, über Lautsprecher angekündigt.

Die Lautsprecherstimme hallt wie am Bahnhof durch den offenen Raum, man wartet auf die Gleisangabe. Stattdessen: Anna Netrebko als Aida. Da brandet an diesem Abend zum ersten Mal leidenschaftlicher Applaus auf. Es wird dann bei jedem ihrer Auftritte Szenenapplaus geben, durchsetzt mit lauten "Brava"-Rufen. Sie ist aber auch großartig in dieser Rolle, wie sie sich im rötlich erdfarbenden Sklavinnengewand ihrer Herrin und Nebenbuhlerin Amneris (Clémentine Margaine) zu Füßen wirft. Ein bisschen Callas-Stimmung kommt auf. Netrebko vermeidet natürlich, wie jede gute Sängerin, das hörbare Kippen beim Registerwechsel. Für die Callas war dies dagegen geradezu ein Markenzeichen, da erwartete man, dass es "klick" macht, wenn es nach oben geht. Dort angekommen, konnte es bei der Callas aber auch mal eng und scharf werden, während sich bei Netrebko hier der Himmel öffnet und ihr Sopran weit ausschwingt.

Was die Callas an Zerbrechlichkeit und Unerbittlichkeit ausstrahlt und die Netrebko an empathischer Umarmung, hat konkreten stimmtechnischen Zusammenhang. Die beiden großen Sängerinnen sind, bei zum Teil verblüffenden Ähnlichkeiten in der Klangfärbung der tieferen Lage, dann doch zwei sehr unterschiedliche Charaktere. Während die Callas, zumindest auf der Bühne, die unangefochtene Herrscherin gab, schimmert bei Netrebko immer auch ihr freundliches, verletzliches Grundwesen durch. Das tröstet den Hörer allerdings manchmal schon vor der Zeit, während er bei der Callas bis zum bitteren Ende hart leiden musste. Es ist kein Erbarmen in ihrer Stimme, und man begriff geradezu physisch, wie das Schicksal zuschlägt. Das war die Größe der Callas, und darin wird sie vielleicht für immer unerreicht bleiben.

Es ist in Verona das Privileg der Wasserverkäufer, die Musik mit Geräuschkompositionen zu bereichern

Die Netrebko dagegen bietet Auswege. Ihre vollendete Gesangskunst lenkt ab von dem Grauen, das Radamès und Aida erwartet: lebendig eingemauert zu werden. Man ist so fixiert auf ihre Stimme, dass man für Augenblicke vergisst, was sie singt. Für die Rückbindung an die Realität sorgen hier Menschen, die nach der Pause in den Katakomben schuften. Es ist in Verona von jeher das Privileg der Wasserverkäufer, die Musik mit eigenen Geräuschkompositionen zu bereichern. Früher als fliegende Händler auf den Rängen, heute als gesettelte Bartender, die, während Netrebko auf der Bühne vor Schmerz vergeht - "numi, pietà del mio soffrir!" - zusehen müssen, wie sie ihre Waren verstauen. "Soll das nach hinten? Nein, lass das mal hier." - "Götter, habt Erbarmen!" - "Wieviel haben wir verkauft?" - "Es gibt keine Hoffnung für mein Leid."

Für die Zuschauer in der Arena schon, denn die Getränkehändler konzentrierten sich ganz auf die Netrebko, ihre Gegenspielerin, die sich stimmlich ebenfalls grandios in Szene setzende Clémentine Margaine, bleibt verschont. Und Yusif Eyvazov als Radamès, der hier wie im wahren Leben an der Seite Netrebkos steht? Hatte gegen Ende große Momente, als er seine krude Technik, die immer wieder zu einer Art Würgeklang führt, im Griff hatte. Denn er hat in der Höhe großes Potenzial. Das kommt nur selten so zur Geltung, dass man es hören möchte. Gleichwohl ein großer "Aida"-Abend mit einer zu Recht gefeierten Netrebko.

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