Zum Tod von Andrew Weatherall:Wenn du nicht am Abgrund lebst, nimmst du zu viel Raum ein

Lesezeit: 2 min

Mit seiner Arbeit am Primal-Scream-Album "Screamadelica" riss Andrew Weatherall die Grenzen zwischen Rock und Elektronik ein. Nun ist der DJ und Produzent im Alter von 56 Jahren gestorben.

Von Jan Kedves

Er wollte eigentlich Maler werden, Kunst war sein bestes Fach. Er flog aber von der Schule und auch aus dem Elternhaus. Er schlug sich als Möbelschlepper durch und kaufte sich von dem Geld Platten. Andrew James Weatherall, geboren 1963 in Windsor westlich von London, schob seine gesamte Karriere (die er selbst nie als Karriere bezeichnet hätte) auf seine Plattensammlung. Nur sie habe es ihm erlaubt, für einen DJ gehalten zu werden, erzählte er. Los ging das, als man ihn fragte, ob er bei Shoom auflegen wolle - jener sagenumwobenen Londoner Clubnacht, die von 1987 an den Sound, der im Sommer auf der Partyinsel Ibiza in Clubs wie dem "Amnesia" lief, in der britischen Clubkultur installierte. Eine Zeit mit sehr, sehr vielen bunten Smileys und Pillchen und diesem euphorisch-giftigen Synthie-Zwitschern, das später Acid-House genannt wurde.

Weatherall wurde zum DJ, weil man es ihm zutraute. Autor wollte er wirklich sein: 1986 gründete er mit einigen Musiker- und DJ-Kollegen in London das Fanzine Boy's Own. Mit Texten über Raves, Platten, Indie-Pop, Mode, aber auch über Fußball und Hooligan-Kultur war es ein progressiv-ironisches Sprachrohr der britischen Lad Culture, die später auch oft nervig und maskulinistisch sein konnte.

Zum Produzenten wurde er genauso wie zum DJ: Man fragte ihn. Die Bands, die in den Clubs zu seinen DJ-Sets tanzten, trauten es ihm zu. So entstand 1990 sein Remix für die Single "Soon" von My Bloody Valentine. Das britische Magazin NME wählte ihn auf Platz 1 seiner Liste der "50 besten Remixe aller Zeiten". So entstand auch das Album "Screamadelica" (1992) der Band Primal Scream - ein Album, das mit einem mittelmäßigen Bluesrock-Plagiat à la Rolling Stones beginnt ("Movin' On Up"), um ab dem zweiten Song unter Weatheralls Ägide einen so trippig-spiralisierenden Sog aus Breakbeat-Loops, Dub-Bässen, Soul-Gesang, Echo-Effekten und Gitarren-Riffs zu entwickeln, dass er stilprägend wurde. Das war Musik aus der Indierock-Welt, die sich zum Raven eignete, oder andersherum: Rave-Sound, der Indie-Kids gefiel. Damals dachte man noch in Lagern: entweder Rock oder Elektronik. Nach "Screamadelica" leuchtete das immer weniger Hörern ein, zum Beispiel einem Pariser Duo, das als Daft Punk bald sehr berühmt wurde.

In den Neunzigern remixte Weatherall dann Songs für Björk, die Dust Brothers (aus denen die Chemical Brothers wurden), für Spiritualized, die Manic Street Preachers, später auch für Noel Gallagher's High Flying Birds - also eigentlich für alle britischen Gitarrenstars. Sie erkannten in ihm einen von ihnen. Mit seinem gezwirbeltem Schnauzer, den Tweedwesten, den hochgerollten Ärmeln und den Unterarmen voller Tattoos sah er ja auch mehr aus wie ein Barkeeper als wie ein Mitglied des internationalen DJ-Zirkus.

Weatherall war ein DJ, der Platten nicht bis zur Unkenntlichkeit ineinanderschmiss, sondern sie respektvoll ausspielte; ein Connaisseur, der von Spannungsbögen und produktiven Genre-Kollisionen viel verstand. Als am Montagabend die Nachricht von seinem Tod kursierte, twitterte der "Trainspotting"-Autor Irvine Welsh: "Genie ist ein überstrapazierter Begriff. Aber mir fällt nichts Besseres ein, um ihn zu beschreiben." Weatherall selbst kritzelte, als er 2016 in New York zu Gast in der bekannten DJ-Radiosendung "Beats In Space" war, einen denkwürdigen Spruch auf das zu hinterlassende Erinnerungspolaroid: "If you're not living on the edge, you're taking up too much room" - wenn du nicht am Abgrund lebst, nimmst du zu viel Raum ein. Am Montag ist er in London einer Lungenembolie erlegen. Er wurde 56 Jahre alt.

© SZ vom 19.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Alben der Woche
:Man kriegt den Jungen aus dem humanistischen Gymnasium ...

... aber das humanistische Gymnasium eben nicht aus ihm. Prinz Pi veröffentlicht gleich zwei neue Alben. Die furchterregendste Musik kommt aber von Huey Lewis And The News.

Von den SZ-Popkritikern

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: