Andreas Bernards Buch "Wir gingen raus und spielten Fußball":Du bist nicht allein

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Trauerflor am Gebälk: Sepp Maier bei der Fußball-WM 1978 in Argentinien neben dem Torpfosten mit dem geheimnisvollen schwarzen Streifen. (Foto: Imago/Sportfoto Rudel)

Andreas Bernards feine, spielerisch leichte Erinnerungen an eine Kindheit im Fußballdeutschland der Siebziger.

Von Holger Gertz

Andreas Bernard verfügt über ein erstaunliches Erinnerungsvermögen, oder er muss - schon als Kind - sich kleinste Details notiert haben, denn er weiß noch alles über einen Fußball, den es schon lange nicht mehr gibt. Dass die Torpfosten bei der Weltmeisterschaft in Argentinien 1978 unten schwarz angemalt waren, wie ein Trauerflor am Gebälk, zum Beispiel. Oder dass die Tornetze dort weiter nach hinten gespannt waren als in der Bundesliga, der Ball musste, jedenfalls in der Erinnerung, bei dieser WM in einigen Stadien vom Keeper fast wie aus einer Art Fischernetz befreit werden. "An die Kindheit denken heißt, an Fußball denken", schreibt Bernard, für den die erste bewusst erlebte Weltmeisterschaft jene damals in Südamerika war. Für andere war es Spanien 1982, die WM der unvergleichlich dottergelben Trikots der Brasilianer. Oder Mexiko 1986: Wie der Stadionlautsprecher im Aztekenstadion einen Schatten auf den Mittelkreis warf, und der Schatten sah aus wie der Umriss eines riesigen Strohsterns.

Bernard, Jahrgang 1969, denkt, wenn er an die Kindheit denkt, an die frühen Schlachten, deren Zeuge er im Fernsehen war, er denkt aber auch an die Schlachten, an denen er als talentierter Linksfuß teilgenommen hat, im Verein, wo noch in der E-Jugend ein Trainer sagte: "Du kannst das Spiel beruhigen." Ein vergiftetes Lob, dahinter die Botschaft: Der Schnellste bist du nicht. Also: Fußball ist das Spiel des Lebens. Schon auf den Fußballplätzen der frühen Jahre, Steinwüsten erst und dann ein Feld, das einen Gummibelag hatte und deshalb Gummi genannt wurde: Die Jungs spielten auf dem Gummi gegeneinander, und obwohl all diese Spiele, noch vor jeder Vereinszugehörigkeit, in München ausgetragen wurden, trat Bernard in einem Trikot des MSV Duisburg an, die blau-weißen Querbalken gefielen ihm. Die Eltern hatten das Trikot bei einem Händler bestellt, der damals im Fachblatt kicker inserierte. Es kam nach wochenlangem Warten per Post.

Früher mussten Traumtore in der Erinnerung überleben, heute sind sie auf ewig bei Youtube

An dieser Stelle, wo es um die Beschaffung des Lieblingstrikots geht, wird deutlich, was sich unter anderem geändert hat: Dass inzwischen alles, was der fußballspielende und fußballliebende Mensch braucht, andauernd und permanent verfügbar ist. Die Trikots aller Vereine der Welt in den Internet-Fanshops, Blitzlieferung garantiert. Und alle Traumtore, die man früher in der Sportschau einmal gesehen hat und die dann in der Erinnerung überleben mussten, weil man sie vielleicht erst beim Jahresrückblick wieder bewundern können würde oder überhaupt nie mehr - die sieht man inzwischen, kaum sind sie geschossen, bis zum Ende aller Tage auf Youtube. Auch die schwarzen Flächen an den Torpfosten in Argentinien sind entmystifiziert, als stummer Protest gegen die Militärjunta - wobei es auch zu dieser Theorie Gegenreden gibt. Inzwischen gilt allerdings auch in Argentinien das Fifa-Regelbuch: "Pfosten und Quer­latten sind weiß."

Bernard, der Kulturwissenschaften an der Universität Lüneburg lehrt, weitet in seinem feinen Text immer wieder spielerisch leicht das Feld, wenn er über den Fußball nachdenkt und dessen inzwischen im Netz permanent geöffneten Schatzkisten und Archive. Es geht doch, bei der Beschäftigung mit Fußball, immer um viel mehr als nur um Fußball: "Würde es Uwe Johnsons Jahrestage geben, wenn in Manhattan Ende der sechziger Jahre Highspeed-WLAN und Websites wie antiqueprintsandmaps.com die mecklenburgische Landschaft vor dem zweiten Weltkrieg hätten aufleben lassen? Die größten Erinnerungsbücher sind einem elementaren Mangel abgerungen, und es ist noch nicht entschieden, welche Konsequenzen die digitalen Paradiese der Vergegenwärtigung für das literarische Schreiben haben werden."

Andreas Bernard: Wir gingen raus und spielten Fußball. Klett-Cotta, Stuttgart 2021. 160 Seiten, 20 Euro. (Foto: N/A)

Natürlich versammelt "Wir gingen raus und spielten Fußball" (ein von der Aufforderung zum Bekenntnis veredeltes Beckenbauer-Zitat) viel - und möglicherweise auch viel unnützes - Nerdwissen. Aber wenn man selbst jede Menge davon angehäuft hat, vermittelt einem die Lektüre das angenehme Gefühl, nicht allein zu sein. Manches, was man aus der Kindheit erinnert, bleibt doch ohne Mitwisser ein nur schwer nachprüfbares Mysterium.

Mythen, Rätsel: Wieso etwa änderte Gerd Müller sein Aussehen nach der WM 1974?

Der Autor dieser Rezension etwa erinnerte sich lange Jahre seines Lebens an eine Figur aus dem Kinderfernsehen, die aussah wie eine etwas in die Jahre gekommene Maus mit grauem Vollbart und die er als "Meikel Mausegreis" abgespeichert hatte. Andere, deutlich die Mehrheit, erinnerten sich an "Meikel Katzengreis", und wie das eine Tier mit dem anderen zusammenhing, brachte erlösend erst das Internet zum Vorschein, als es endlich auf Touren kam. Meikel Mausegreis gab es wirklich, im fernen Jahr 1975, aber er musste nach wenigen Sendungen von einer alten Maus zu einer alten Katze umdekoriert werden, weil man Verwechslungen mit der "Sendung mit der Maus" zuvorkommen wollte. Das Ganze war also eine Art Markenrechtssache.

Andreas Bernard erinnert, passend dazu, an die zwei Versionen des Gerd Müller. Der Müller der frühen Siebziger, ungefähr bis zur WM 74, trug längeres Haar, mitunter einen Schnurrbart, der Bomber der Nation konnte tatsächlich aussehen wie ein südamerikanischer Freiheitskämpfer. Der spätere Müller hatte eine brave Frisur und diesen Filialleiter-Vollbart, er wirkte schwergängiger, auf dem Panini-Sammelbild "Euro Football" 1976/77 sieht er schon so aus und danach eigentlich immer. "Wer weiß, warum er sein Aussehen einer solchen Wandlung unterzog?", fragt Bernard, das ist post mortem vermutlich nicht mehr zu beantworten. Wichtigeres, bleibendes Thema aber: Wie Bilder die Grenze zwischen unbewusstem und bewusstem Leben nachzeichnen. Vielleicht ist es so, dass der frühere, anarchistische Müller noch aus der Fantasiewelt der Zeit vor der eigenen Anschauung stammte. Während der spätere Müller schon derjenige war, den man mit eigenen Augen spielen gesehen und dadurch auch ein wenig entzaubert hat.

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