In einem seiner Essays berichtet der amerikanische Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould von einer Unterhaltung zweier Mädchen, die er auf einem Spielplatz in New York aufgeschnappt hatte. Sie diskutierten über die Größe von Hunden. Das eine Mädchen fragte: "Kann ein Hund so groß sein wie ein Elefant?" Das andere Mädchen überlegte ein wenig und antwortete: "Nein, wenn er so groß wie ein Elefant wäre, würde er wie ein Elefant aussehen." Der Kommentar des Evolutionsbiologen: "Sie hatte recht."
Goulds Essay handelt vom Zusammenhang von Größe und Gestalt, Körpervolumen und Oberfläche in der Evolution von Organismen. "Einige kleinere Tiere haben nie innere Organe entwickelt", schrieb er und zeigte, warum manche kleine Tiere gezwungen sind, klein zu bleiben und andere beim Größerwerden gezwungen sind, ihre Gestalt zu ändern: "kein großes Tier hat eine durchhängende Mitte wie ein Dackel".
Das Verhältnis von Roman und Erzählung
Es ist ein reizvolles Gedankenspiel, die Beobachtungen Goulds auf die Evolution der literarischen Formen zu übertragen. Es wird dann schlagartig klar, dass die berühmte Definition des Romans, die der englische Schriftsteller E. M. Forster in seinen "Aspects of the Novel" gab, keineswegs nur ein äußeres Merkmal in den Vordergrund rückte: "jedes Stück fiktiver Prosa mit mehr als 50 000 Wörtern".
Die inneren Organe, die der Roman ausgebildet hat, um Weltausschnitte in sich aufzunehmen und darzustellen, folgen natürlich, anders als die Organismen Goulds, literarischen Gesetzen. So kann zum Beispiel ein großer Roman eine durchhängende Mitte haben, während die Erzählung als vergleichsweise kleineres Tier damit ihre Schwierigkeiten hat. Und zwar umso mehr Schwierigkeiten, je weniger Wörter sie enthält. Außerdem verdankt sie ihre Vorzüge oft dem Verzicht auf die Herausbildung innerer Organe und Verschlingungen, die für den Roman unverzichtbar sind.
Der amerikanische Schriftsteller E. L. Doctorow, 1931 in New York geboren und in der Bronx aufgewachsen, ist vor allem durch seine Romane berühmt geworden, in denen er mit sicherem Gespür für exemplarische Stoffe ein Genre des 19. Jahrhunderts modernisierte: den historischen Gesellschaftsroman. In "Ragtime" (1975) porträtierte er die amerikanische Gesellschaft des frühen zwanzigsten Jahrhunderts als Einwanderergesellschaft, in "World's Fair" (1985) aus der Perspektive eines Heranwachsenden die Große Depression bis zur New Yorker Weltausstellung 1939, über die schon der Schatten des Weltkriegs fällt.
Eine Sammlung der Relikte des 20. Jahrhunderts
Seine jüngsten Romane demonstrierten virtuos die Spannbreite seiner Rückgriffe auf historische Stoffe. "The March" (2005) (dt., "Der Marsch") zeigte, wie der amerikanische Bürgerkrieg die gesamte Zivilgesellschaft erfasste, "Homer & Langley" (2009) verwandelte einen Zeitungsstoff aus der Rubrik der "faits divers" in eine Studie über den Rückzug eines Brüderpaars in ihre Wohnung, wo sie als frühe Messies die Relikte des amerikanischen 20. Jahrhunderts zu einer monströsen Sammlung auftürmen.
Seit den Achtzigerjahren hat Doctorow auch immer wieder Erzählungen geschrieben und 2011 daraus eine Auswahl zusammengestellt, die nun auch auf Deutsch erschienen ist. Im Vorwort macht sich Doctorow Gedanken über das Verhältnis von Roman und Erzählung. "Jede fiktionale Form bringt ihre eigene Erfüllung mit sich - bei der Erzählung ist es das Gewicht der Sätze, da es nicht viele davon gibt." Das führt in die Nähe von Goulds Frage nach dem Verhältnis von Größe und Gestalt. Aber wann hat eine Erzählung "nicht viele" Sätze?
Gleich die erste Geschichte regt dazu an, dieser Frage nachzugehen. Sie gehört zu den sechs hier erstmals auf Deutsch publizierten Erzählungen, die Gertraude Krueger ebenso stilsicher übertragen hat wie die 2009 verstorbene Angela Praesent die älteren Geschichten, die bereits in den Bänden "Der Schriftsteller in der Familie" (1995) und "Das Leben der Dichter" (2006) enthalten waren. Diese erste Geschichte heißt "Wakefield", und das lässt aufhorchen, denn es ist der Titel einer bekannten Erzählung von Nathaniel Hawthorne (1805-1864), die es auf Deutsch in einer sehr schönen Übersetzung von Joachim Kalka bei der Friedenauer Presse gibt.