Alexander Kluge: Politische Geschichten:Bretter auf der Stirn

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Alexander Kluge erzählt in seinem neuen Buch von einer götterlosen Wirklichkeit: 133 politische Geschichten, die einem den Boden unter den Füßen wegziehen.

Jens Bisky

Ludwig XVI. hatte seinen Zeremonienmeister geschickt, um die Nationalversammlung aufzulösen. Wenn in Frankreich möglichst viel beim Alten bleiben sollte, mussten die enthusiasmierten Generalstände sich mit der ihnen zugedachten Rolle eines beratenden Gremiums bescheiden. Am 23.Juni 1789 durchkreuzte der Abenteurer Gabriel de Riqueti, Comte de Mirabeau, das Kalkül. Er sprach die den Augenblick entscheidenden Sätze: Die Nation gebe Befehle, sie empfange keine. Dem König solle gesagt werden, dass die Abgeordneten nur der Gewalt der Bajonette weichen würden. Damit läutete er gleichsam die Sturmglocke zu der Revolution, in deren Schatten wir bis heute leben.

Der Selber-Sehen-Woller: Alexander Kluge trifft in seinem neuen Buch die richtige Mittellage zwischen Detail und großem Ganzen. (Foto: dpa)

Woher nahm der Graf die Worte? Trieben ihn Interessen, Ideen, Klassenbewusstsein? Heinrich von Kleist hat berichtet, wie Mirabeaus "Donnerkeil" beim allmählichen Reden verfertigt, aus dem Augenblick geboren wurde, auf Unmerkliches reagierend. "Vielleicht", meint Kleist, "daß es auf diese Art zuletzt das Zucken einer Oberlippe war, oder ein zweideutiges Spiel an der Manschette, was in Frankreich den Umsturz der Ordnung der Dinge bewirkte."

Diese Art der Betrachtung, die dem Zufall und dem Charakter mehr Raum gibt als überpersönlichen Gesetzmäßigkeiten, ist nie sehr populär geworden. Politische Analyse zielt in acht von zehn Fällen aufs Grundsätzliche. Umso rascher liest man sich in den politischen Geschichten Alexander Kluges fest, in denen, als habe sie ein Kleist unserer Gegenwart verfasst, die Frage nach dem Verhältnis von Zufall und Moral wiederkehrt. Durch schöne Anstrengung lässt sich hier der Blick für die Tatsachen des Politischen trainieren. Es ist freilich ein ernüchterter Kleist, der hier schreibt. Das Putschistische und die Euphorie im Untergang hat sich Kluge versagt. Er nimmt die Formeln, in denen der Betrieb beschrieben wird und sich selbst beschreibt, buchstäblich ernst. Er vermutet, dass aufgrund von Zeitmangel dem Politbetrieb eigene, treffende Bezeichnungen für seine Tugenden fehlen. Die passenden gewinnt man durch Geschichten.

Politik sei das "Bohren harter Bretter"? Das Schlagwort treffe nicht, sagt bei Kluge die "erfahrene Politikerin Gertrud Reinicke, derzeit Assistentin in einer Bundestagsfraktion". Politik sei der "handwerklichen Stufe entwachsen". "Das Bild, daß einer wie ein Tischler vor seinem Arbeitsgegenstand sitzt und bohrt, also sich als Einzelner aufführt, widerspricht auch der Rolle in dem Netzwerk, das die Politik darstellt."

Damit sich der Leser in dieser Einsicht nicht zu behaglich einrichtet, erzählt Kluge unmittelbar anschließend von Brettern im Sommerbad Halberstadt, an denen die Astlöcher das Wichtigste waren, von Mussolinis Scheu, "ein hartes Brett zu bohren" und von "Brettern auf der Stirn": "Preußische Ulanen, die 1792 das Heer des Herzogs von Braunschweig begleiteten, der nach Frankreich vordrang, schweiften ins Elsaß. In einigen Städten treiben sie die Gemeindebeamten zusammen, an ihren Mützen als Jakobiner erkenntlich, und nagelten ihnen Bretter auf die Stirn. Nägel und Hammer liehen sie von den örtlichen Handwerkern unter Gewaltandrohung. In einigen Fällen klopften sie die Nägel so ungeschickt in die Schädel, daß der Beamte starb."

In dieser Prosa ist kaum ein Wort zu viel. Die kurzen Geschichten sollen treffen, erhellen, aphoristisch zuspitzen. Da verbieten sich Ausmalung, Süffigkeit, propagandistischer Sirup. Nirgends will der Autor überreden. Er will Geschichten erzählen, mögen sie nun von Max Weber im revolutionär durchglühten Bayern, von Marx' Desinteresse an der Börse, von sowjetischen Bergsteigern oder einem emotionalen Ausbruch des Ministers Wolfgang Clement handeln. "Er verhält sich nicht ,links' oder ,rechts'", heißt es in Kluges "Totenrede für Peter Glotz". "Das wäre für ihn nur eine Sitzordnung im Konvent der Französischen Revolution von 1789."

Das ließe sich auch über Alexander Kluge sagen. Auch er berichtet, erzählt, kommentiert "charakterfundiert". Es leitet ihn sein Beobachtungstemperament, das ansteckend ist. Reinhard Jirgl hat sich infizieren lassen und einen Agentenbericht vom Wiener Treffen zwischen Chruschtschow und Kennedy erfunden, ein Kabinettstück und eine Demonstration, dass die Wahrheit sich im Oszillieren von Fiktion und Wirklichkeit enthüllt.

Kluge meidet glücklich die programmatische Lauheit eines sich als postideologisch missverstehenden Zeitalters. Lässig wirkt er nie, er lässt sich von jeder Geschichte den Boden unter den Füßen wegziehen, um ihn erzählend wieder zu gewinnen. Revolutionen und Katastrophen gilt seine Leidenschaft ebenso wie den Jahren glücklicher Ereignislosigkeit.

Eine unsichtbare Hand soll bekanntlich dafür sorgen, dass konsequent verfolgter Eigennutz dem Gemeinwohl zugutekommt. Wie viel Irrationales steckt in dieser so vernünftig klingenden Erwartung? "Die ,unsichtbare Hand'" ist Kluges Bericht über das Gutachten eines angesehenen Explorationsgeologen überschrieben, das die Ereignisse auf der BP-Bohrinsel im Golf von Mexiko ergründete. Der erfahrene, mit allen Wissenschaftsstandards vertraute Geologe fand, sorgsam untersuchend, eine "solche Häufung von Zufällen", wie er sie wohl aus "historischen Erzählungen über vergangene Schuld oder einen Fluch" kannte, nicht aber "aus der technischen Realität der Bohrpraxis.

Muss man, um zu verstehen, aus dem geläufigen Schema von Ursache und Wirkung ausbrechen, Zusammenhänge in Rechnung stellen, die "der Relation von Schuld und Sühne gehorchen"? Kluge endet in der untragischen, götterlosen Wirklichkeit: BP habe das Gutachten "als mangelhaft bezeichnet und nicht bezahlt".

Einem so verengten Blick dürfte auch die Entstehung einer neuen Aggressivität entgehen. Kluge befragt einen New Yorker Anwalt aus dem Büro des Inspector General im Pentagon über Truppen in Afghanistan. Dort sei ein "neuer Menschentyp" entstanden, der seine eigenen Ängste in die Wüste schickte und andere das Fürchten lehre. Das seien zufriedene junge Männer, Abenteurer ihrer selbst, "zeitlich und örtlich indifferent, in jedem Augenblick tüchtig. "Der destruktive Charakter ist jung und heiter."

Diese "133 politischen Geschichten" gehören auf den Frühstückstisch eines jeden passionierten Zeitungslesers. Kluge sieht mehr, weil er die richtige Mittellage zwischen Detail und großem Ganzen trifft und weil ihm Kant, Kleist, Hegel, Napoleon, Heidegger und Habermas stets gegenwärtig sind, als habe man deren Geschichten gerade in der Zeitung gelesen. Er ist auch ihnen Augenzeuge.

Der eigensinnige Schwung dieses Selber-Sehen-Wollens lässt auch resignativ ausklingende Geschichten heiter enden: "Anders als von Kleist berichtet, wurde Michael Kohlhaas, der als Todeskandidat bereits auf seine Hinrichtung vorbereitet wurde, von einer Rotte befreundeter Räuber aus Böhmen (wie in Schillers Drama dargestellt) aus dem Gefängnis in Wittenberg entführt." In einer fränkischen Reichsstadt soll er gewohnt, den Gedanken an Rache aufgegeben haben. "Nie mehr war er in der Lage, Bluttaten zu begehen. Er war als Kaufherr tätig und achtete sorgsam auf die Tauschäquivalenz."

Das kann man historische Hoffnung nennen oder Desillusionierung. Gleichviel. Geschichten sind der Sinn der Geschichte.

ALEXANDER KLUGE: Das Bohren harter Bretter. 133 politische Geschichten. Mit einem Gastbeitrag von Reinhard Jirgl. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 336 Seiten, 24,90 Euro.

© SZ vom 08.04.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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