Alben der Woche:Eine mindestens große Pop-Sensation

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Und am Ende klingt alles wie selbstverständlich ganz traditionell, stimmig, logisch. Sängerin Rosalía. (Foto: Sony Music)

Rosalías neues Album ist verwirrend grandios, Peter Doherty ist ebenfalls sehr toll - drogenfrei. "Cypress Hill" nutzen das 90er-Revival und bei Charli XCX überleben sich die 80er.

(Foto: N/A)

Peter Doherty & Frédéric Lo - "The Fantasy Life of Poetry & Crime"

Es gibt Menschen, die probieren einmal im Leben Drogen und geraten für lange Zeit in ein Paralleluniversum. Und es gibt Menschen wie Peter Doherty: Der legte, genau andersrum, vorletzten Sommer nach 20 Jahren die erste richtige Drogenpause ein und lernte plötzlich die Welt von einer anderen Seite kennen. Mit klarem Kopf traf er auf den französischen Musiker Frédéric Lo, die beiden begannen, zusammen Lieder zu schreiben, Lo die Musik, Doherty die Texte. So entstand in einem einsamen alten Haus in Frankreich das bezaubernde Album "The Fantasy Life of Poetry & Crime" (Straps Originals). Doherty singt zarte Zeilen voll entrückter Melancholie, die Musik atmet den Geist der 60er-Jahre, da weht viel Chanson durch, immer wieder geht es sogar Richtung Musiktheater, Geigen, ein paar schwermütige Bläser im Hintergrund. Im verhalten orchestralen "The Ballad Of ..." würden sich auch Neil Hannon ( Divine Comedy) und Rufus Wainwright wohl fühlen. Dann wieder Bänkelsänger-Pop mit akustischer Gitarre, très charmant insbesondere der Frühlingssong "Keeping Me On File". Und der entgiftete Doherty klingt zentriert und konzentriert wie selten zuvor. Was für ein schönes Album, was für eine schöne Überraschung. Max Fellmann

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All Them Witches - "Live On The Internet"

All Them Witches ist eine von diesen Bands, deren Musik eigentlich dringend live in stickigen Kellerclubs gespielt gehört, wo es zu eng ist, zu dunkel und vor allem zu laut. Das Quartett aus Nashville spielt das, was gern mal "Stoner Rock" genannt wird, eine etwas doofe Schublade, aber bitte, der Einfachheit halber, Stoner Rock also: viel Black Sabbath drin, viel E-Gitarren-Gewitter, Riffs, die in endloses Geknüppel übergehen, alles klingt ausgesprochen langhaarig, finster und toll. Eigentlich wollte die Band in den vergangenen Jahren viele Konzerte geben, die fielen alle der Pandemie zum Opfer - also gab es nur eine Studio-Session, die aber immerhin mit Live-Übertragung im Internet. Die Aufnahme ist jetzt als Album erhältlich, "Live On The Internet" (V2), und den Umständen zum Trotz schön wuchtig geraten. Wenn man diese Songs zu Hause wirklich laut aufreißt und dabei das Licht dimmt und sich eine Weile im Kreis dreht, dann ... naja, man kann sich zumindest fast schon vorstellen, wie das vielleicht irgendwann mal wieder sein wird, so ein richtig krachwalzendröhnendes Gewühl in einem zu engen, zu dunklen, zu lauten Keller. Max Fellmann

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Charli XCX - "Crash"

Das fünfte Studioalbum von Charli XCX klingt wie eine doppelte Selbstgefährdung. Inhaltlich am Abgrund gebaut, erzählt es von Aufruhr, Sex und ungesunden Trennungen. Musikalisch geht es noch zwei Schritte weiter: Während Charli XCX' Musik bislang bloß in die Zukunft wies, blickt sie auf "Crash" (Atlantic) zum ersten Mal auch ausgiebig zurück. Anders gesagt: Die einstige Queen of Zukunftspop bedient sich unverhohlen am Wühltisch der Musikgeschichte. In "Good Ones" überleben sich die 80er-Jahre in einer tanzwütigen Bassline. Durch "Every Rule" schwebt ein Keyboard-Fünfklang wie einst durch Angelo Badalamentis "Twin Peaks"-Soundtrack. Und selbst für Britneys Spears, Charli XCX' größte Heldin, richtet sie mit dem seufzend-lasziven "Baby" ein Denkmal auf. Ihre sonst typische Vertracktheit findet man nur noch in unscheinbareren Songs wie "Lightning". Es ist übrigens das letzte Album im Vertrag mit dem Majorlabel Atlantic. Dass sie damit mutwillig einige Erwartungen von Fans enttäuschen wird, weil sie wie nie zuvor auf den Mainstream zielt, hat eine Klasse für sich. Timo Posselt

(Foto: N/A)

Cypress Hill - "Back In Black"

In einem der vielen nostalgischen Artikel zum anhaltenden 90er-Jahre-Revival war letztens zu lesen, das Jahrzehnt damals sei popkulturell im Wesentlichen geprägt gewesen von Tamagotchi, Arschgeweih, Nirvana und Techno. Kann man in etwa so unterschreiben. Es kann aber auch gut passieren, dass einem, während man versucht, den Text von "Smells Like Teen Spirit" zusammenzukriegen, im Hinterkopf ständig eine muppets-hafte Quäkstimme dazwischenskandiert, sie sei "Insane In The Brain". Der Hit von Cypress Hill - und vor allem: diese hirnbohrende Nölstimme - war damals mindestens so omnipräsent wie die unseligen Rücken-Tattoos. Und heute? Kurt Cobain lebt nicht mehr, die Techno-Größen von einst sind längst alle Kulturreferenten oder so, nur Cypress Hill gibt es immer noch, und sie machen ... ja nun, immer noch genau dasselbe. Auf dem neuen Album "Back In Black" (BMG Rights /Warner) laufen Drum-Loops, die man noch vom Debüt zu kennen meint (und das erschien 1991!), darüber quiekequaken die Kalifornier die gleichen Wir-super-ihr-nicht-Tiraden wie einst. Hip-Hop, an dem die vergangenen 20 Jahre völlig spurlos vorbeigegangen sind. Aber warum sollte man es den mittelalten Herren verdenken, dass sie die Gunst der Stunde nutzen? Wenn genau jetzt Revival, dann eben genau jetzt noch ein paar Dollar mitnehmen. Max Fellmann

Rosalías Album "Motomami". (Foto: Sony Music)

Rosalía - "Motomami"

Verstehen kann das freilich keiner mehr. Es ist ja eigentlich nicht möglich. Da zerlegt diese Rosalía Vila Tobella alias Rosalía aus Katalonien nach dem Flamenco auf "Motomami" (Sony Music) nun die traditionelle Musik Lateinamerikas endgültig. Ach, was heißt zerlegt. Zerfetzen trifft es ja eher. Elektronische Beats poltern herein in balladenhafte Sopran-Ouvertüren, stolpern, fangen sich, torkeln weiter, überschlagen sich, schlagen mit dem Gesicht ungebremst auf dem Asphalt auf - und gleiten dann doch einfach sanft davon. Reggaeton prügelt Mariachi-Bläser windelweich, Synthies zersägen, was in der Szenerie noch so herumsteht, Autotune-Stimmen kehren den Rest zusammen. Und am Ende klingt alles trotzdem wie selbstverständlich ganz traditionell, stimmig, logisch. Eine mindestens große Pop-Sensation. Jakob Biazza

(Foto: N/A)

Helmut - "My Interstellar Love Life"

Über den Künstlernamen Helmut kann man sich streiten. Die einen denken da automatisch an Kohl, die anderen immerhin an den hilflosen Taxifahrer in Jim Jarmuschs "Night On Earth". Davon sollte man sich aber nicht ablenken lassen Der Berliner Musiker Adrian Schull veröffentlicht jetzt als Helmut sein Album "My Interstellar Love Life" (Wordandsound), und das klingt zum Glück weniger nach CDU als nach Indie-Film: behutsame Wohnzimmer-Pop-Miniaturen, zurückhaltende Percussions, ein paar warme Synthesizer-Akkorde, der Gesang nie so laut, dass er Nachbarn stören könnte. Da klingt alter Berliner Wave-Pop an, zwischendurch ein wenig Alt-J, und wer mag, kann auch eine weitläufige Verwandtschaft zu Bon Iver raushören. Verspielt, sympathisch - und ausgesprochen gut geeignet für die ersten sonnigen Nachmittage auf dem Fensterbrett. Max Fellmann

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